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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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I, Das Erbe.

guten Eigenschaften einer Sache zu erfassen, bei der Wahl dieDinge von Würde zn ergründen, das Würdigste iu der Natur zuerkennen. Die Griechen erkannten, daß dies der Mensch sei; daßer selbst würdiger sei als seine Kleider, daß jener im ganzenGeschlechte der würdigste sei, in welchem sich gewisse Verhältnissesänden. Und so lernten sie die Fehler des Leibes «erkennenund bildeten ihre Götter iu Vermeidung dieser vollkommen,d. h. nach richtigen Verhältnissen, nackt und menschlich. Freilichnur solange die Kunst unter hohen Geistern blieb, dem Urteil derPhilosophie folgte. Seit sie den Reichen diente, fiel sie auf Kleinig-keiten, närrische Chimären, unmögliche, lügenhafte Sachen, groteskeArbeit. Erst Rafael, Tizian und Correggio brachten die Wieder-kehr gnter Kunst: Die vor diesen schaffenden Maler haben ohnerechte Wahl die Natur als Ganzes nachzuahmen gestrebt unddaher nur Unvollkommenes, eine Wirrnis ohne Geschmack erreicht.Rafael brachte die Bedeutung in Komposition und Zeichnung,Correggio die Annehmlichkeit der in Licht und Schatten stehendenForm, Tizian den Schein der Wahrheit in der Farbe. Weil aberdie Bedeutungohne Streit" der einzige nützliche Teil der Malereiist, so ist auch Rafael ohne Streit der größte Maler. Tizian aberift der letzte der drei, da die Wahrheit mehr eine Schuldigkeit alseine Zierde sei.

Dem neuen Künstler stehen nun zwei Wege frei, zum gutenGeschmack zu kommen: das Vollendete selbst in der Natnr znsuchen, oder es vou den alten Meistern zu entnehmen. Das ersteresei das Schwerere, wenngleich auch die Meister durch Nachdenkenbeurteilt werden müssen, wolle man nicht an der Schale kanenund die Ursache der Schönheit ihrer Werke wirklich begreifen underfolgreich für sich verwerten. Jedenfalls fei aber der Schülernicht imstande, vor der Natur mit Erfolg zu wählen. Er würde,unvorbereitet vor die härteste Speise, die Natur gesetzt, irrig uuddnmm oder hochmütig. Man solle ihm die reinste Milch der Knnstvorsetzen, ihn verhindern, Schlechtes zn sehen, ihn über die großenMeisterwerke mit Urteil zu denken lehren, ihn die Ursachen findenlassen, durch welche die Werke auf uns als vollkommen, als dengntcn Geschmack befriedigend, wirken.