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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Lessing und Rcynolds,

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Mengs selbst unternimmt es, über die von ihm gefeiertstenMeister mit Urteil denken zu lehren. Er zergliedert ihr Wesenmit großer Schärfe und außerordentlicher Sicherheit. Rafael istihm der, welcher nicht nur die schöne Gestalt suchte, und danach,ob die Figur zu der Geschichte tauge; sondern er prüfte die Seele,cr erkundete die rechte Bewegung znm Ausdruck des in der Gestaltmächtigen Gedankens; er erläuterte aus dem Gesicht die innerenRegungen der Meuschen, indem er alles Unnütze wegließ oder nurbeiläufig anbrachte, wie das Wasser und das Brot auf einem großenGastmahle geboten wird. Er bildet für Mengs die eigentliche undhöchste Grundlage des gnten Geschmackes nnd der künstlerischenVollkommenheit, während die anderen Meister dem nur noch dasihnen Eigenartige hinzufügen: Rafael mit Correggios Anmut undTizians Farbe bereichern und ihn durch die Einfachheit der Antikenoch im Weglassen des Unnützen zu steigern das ist die Auf-gabe, welche Mengs der Kunst seiner Zeit stellte, der er selbstunter stürmischen Beifall seiner Mitlebenden diente.

Seine Abhandlung über die Schönheit und über den Geschmackin der Malerei, erschien in Zürich 1762 und war Winckelmann gewidmet; zwei Jahre darauf erschien Lessings Laokoon; nach fünfweiteren Jahren hielt der Präsident der eben gegründeten Londoner Akademie die erste seiner berühmten Reden, welche, gesammelt schon1781, in Dresden in deutscher Übersetzung erschienen. Sicher warensie hier schon vorher den leitenden Köpfen bekannt. Schadow er-wähnt sie mehrfach. Die nach Belehrung durch die Künstler sodurstigenKuustrichter" fanden in ihr neuen Stoff zum Verarbeitenin ihren Systemen.

Lessings Stellung zur Kunst ist zunächst merkwürdig. Ob-gleich er uicht eben einen Blick für Kunst hatte und obgleich ernicht eben viel gesehen hatte, fühlte er sich alsRichter" befähigt,das letzte endgültige Urteil zu fprecheu, glaubte er, mehr zu seinals der Liebhaber und als der Philosoph. Denn jener empfindetnur die gefällige Täuschung, indem abwesende Dinge vor ihn: alsgegenwärtig erscheinen, dieser sucht allgemeine Regeln, die sich ansHandlangen, Gedanken uud Formen anwenden lassen; der Kunst-richter aber denkt über die Verteilung der Regeln nach den ver-