Druckschrift 
Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
Entstehung
Seite
102
Einzelbild herunterladen
 
  

102

III. Die alten Schulen.

Graff, einen echten Künstler, der seinen Weg ging, vhne sich umdie Streitigkeiten der Ästhetiker zn kümmern. Behandelte er doch einvon ihnen wenig berücksichtigtes Gebiet, das Bildnis. WelcherRichtung der Kritiker auch angehörte, konnte er sich doch dem Ein-drucke von Graffs lebensprühenden Bildnissen nicht recht entziehen.Freilich, es fehlte der Zeit noch die Formel, das Gefallen an ihnenästhetisch zn erklären. In Tagen, in denen man jeder Herzens-regung alsbald mit einem Warum entgegentrat und glaubte, daßsie erst vollständig richtig schlage, wenn sie dnrch kritisches Ver-ständnis geregelt worden sei, mußten solche unerklärten EindrückeZweisel erwecken. Graff hatte die Gewohnheit, von Dresden ausnach Leipzig und Berlin Ausslüge zu macheu, um überall Be-stellungen auszuführen. Er hielt sich in Berlin, wo sein Winterthurer Laudsmaun nnd späterer Schwiegervater Johann George Snlzerlebte, besonders gern auf. Dessen Allgemeine Theorie der SchönenKünste, ein grundgelehrtes, mit noch hente sehr brauchbaren Quellen-angaben reichlich ausgestattetes Wörterbuch der Schönheitslehre, zudem Chodowiecki das sehr schwache Titelblatt zeichnete giebtwohl Graffs Ansicht über seine Kunst wieder: Der Meusch ist dashöchste, unbegreiflichste Wnnder der Natur; daß wir nicht beiseinem Anblick vor Erstaunen stehen bleiben, ist nur die Folge derunablässigen Gewohnheit es zu sehen; aber wer sich über das Vor-urteil der Gewöhnung erheben kann, erlangt die Wissenschaft, ansdem Gesicht nnd der Gestalt des Menschen sein Wesen zuerkennen, die Physiognomik, und somit die Unterlage, im Bildnisnicht nur die Natur zu sehen, sondern die wissenschaftliche Be-fähigung, aus dem Bilde die Menschen lesen zn können. So mußtedenn auch dieser Kunstzweig dem Wissensdurst der Zeit genügen.

Es ist rührend, reizt aber oft auch zum Lächeln, mit welchem EiferLavatcr, der Meister der Physiognomik, über jeden Maler Hersiel,von dem er ein Bildnis erlangen konnte. Jeder von Namen kamnach Zürich , jeder wnrde für des Gelehrten Arbeit in Zins ge-nommen. Denn die Physiognomik sprach von Dingen, die dasWort nicht recht zu fassen vermochte, die also der Zeichnung alsHilssmittcl bedürfte. Nur Carstens fand Lavaters Meinungenabenteuerlich, so daß er mit ihm nicht viel über Knnst reden konnte: