Lavater. — Graff als Seelenmaler.
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Er schwatze zu viel ins Gelag hinein, was für ihn keinen Sinn habe.Lavater wollte eben einen Schritt weiter gehen als die Bildnismaler,die Natnr selbst als einen ans wissenschaftlichen Grundlagen arbeiten-den Künstler darstellen, und somit aus ihren Werken, dem mensch-lichen Antlitz iu erster Liuie, ihre Absicht herauslesen, so zumMenschenkenner werden. Noch wenig gewohnt, die Vielseitigkeitjeder Seele recht zu würdigen, abhängig von der klassischenfranzösischen Dichtung, die mit Vorliebe den Menschen als von einerTugend, eiuem Laster beseelt schilderte, hoffte man dahin zukommen, durch Feststellung der dem Wesen angemessenen Züge imAntlitz, jeden in seine Klasse einreihen, jedem ablesen zu können,wes Geistes Kind er sei. Die Sache fand ungeheuren Anklang,namentlich bei den Künstlern; zumal seit Franz Joseph Gall seinetrotz vielen Schrullen doch anregenden Beobachtungen über die Schädel-lehre herausgab. Er wollte aus dem Bau des Kopses, der Annahme,daß hier uud da im Gehirn das Organ für bestimmte geistigeKräfte sitze, daß dieses wachse und abnehme, je uach der Arbeits-leistung, und daß die Schädeldecke diesem Wachsen nachgebe, andieser beobachten können, welche Organe besonders entwickelt nnd mithinwelche Kräfte im Geistesleben ihrer Träger vorherrschend seien.
Es wimmelte damals von Physiognomikern nnd Phrenologenin der Welt. Die Leute, die etwas im Kopfe hatten, was derAnderen Neugierde weckte, wie Goethe, hatten alle Mühe sich dieUntersucher vom Leibe zu halten. Goethes üble Laune gegenSchadow hatte mit seinen Grund darin, daß er in ihm den Phreno-logen witterte, der seinen Kopf nicht bloß für bildnerische Zweckemessen wollte.
Ein Seelenmaler soll der Porträtist sein, war auch Su lzers Wnnsch,er soll eine menschliche Seele von ausgesprochener Eigenart deutlicherkennbar darstellen können. Somit rückt seine Knnst unmittelbarneben die Geschichtsmalerei. Das ist vor allein Sulzers Forderung.Wie ein gntes Bild aber entstehe, wenn mau die Massen des LichtSzusammenhalten, die Einzelheiten der Kleidung zwar deutlich wieder-geben, aber doch von der Hauptwirkung zurückdrängen, den Schmuckgleich der schlauesten Buhlerin an die rechte Stelle bringen müsse,den Menschen in den Tiefen seiner Seelenregungen erkennen müsse