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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Protestantische Auffassung. Die Schaden des Restaurierens. 279

denken. Die guten Leute von damals waren einfältig genug, einfachihr Bestes zu geben, ohne Nebenabsicht aus den ihnen unbekanntenStilbegriff. Sie hatten ein unbewußtes Gefühl dafür, daß dasNeue Fortbildung des Alten sei und daher ihm nicht schönheitlichwiderspreche. Und wenn auch in unseren Zeiten Leute, die uichtÄsthetik und Kunstgeschichte studieren, oder solche, die es aus einpaar Minuten vergessen können, daß sie einen geläuterten Geschmack,haben, in eine derartig ausgebante Kirche treten, dann spüren sieeine Stimmung eigner Art: die Kirche erzählt ihre Geschichte, sieerzählt sie in jenen alten Versallenden und in jenen schmucken undblanken Teilen, in jenen Werken einer redlichen Unbeholsenheitund sachlichen Armut wie in jenen Schöpfungen hoch entwickelteroder prunkvoller Kuuft. Ein Hauch des Lebens, das sich hier ab-spielte, ruht über dem alten Gestühl und den verschnörkelten Altärenund Betstübchen, eil? Hauch vou langer Zeit alter Frömmigkeit,von hundert Geschlechtern, die hier Trost im Gebet suchten.

Aber dieser Hauch berührte die Ästhetiker und die Kuust-gelehrteu so wenig, wie ihre Schüler, die stilgerechten Architekten.Er war in keine philosophische Formel zu fassen und uicht in dieGeschichte einzuordnen; also bestand er sür die mit Thatsachen arbeitende Wissenschaft nicht, fondern galt als ein Nebel in unreifenKöpfen. Er war auch auf den Reißbrettern nicht zu fassen. Icherinnere mich, wie auf einem Kongreß des Kunstgewerbevereins inMünchen 1883 Joh. Nepom. Sepp sagte: Gerade bei Kirchen-restaurationen werde das meiste verdorben, und wenn wir um dieSchätze aus alter Zeit kämen, so trüge niemand mehr daran Schuldals die Künstler! Infolge des gewaltigen Oho! semer zumeist ausKünstlern bestehenden Hörerschaft milderte er im Berichte seine Redeund setzte Kuustpfuscher anstatt des Wortes Künstler. Er hat damitden trefflichen Sinn seiner Worte völlig entstellt. Gerade das istdas Bezeichnende, daß ernste Künstler, also Männer, die etwas in sichhaben, das zu äußerer Ausgestaltung drängt, am meisten ihreEigenart dem restaurierten Bau aufdrängen. Der gefeiertste Re-staurator des ganzen Jahrhunderts ist Viollet le Due, der Meistervon Notre Dame in Paris und zahlloser anderer Werke. Er hatin mehreren Büchern eine erstaunliche Kenntnis des mittelalterlichen