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VI. Die historische Schule.
Wieweit sie die Tochter jener des 18. Jahrhunderts ist, wider Willen.Bei uns meint man zumeist, mit Carstens sei die Überlieferung durch-brochen. Kaulbach beweist, daß sie stärker war, als Carstens undCornelius. Die Menge wußte, was schöu ist. Die Berliner hatten ihrfertiges Ideal, uach dem sie selbst den Großmeister Cornelius maßen,und da er vor ihm nicht bestand, wurde er von seiner Höhe gestürzt.Das Ideal kam aber nicht aus der Kenntnis der Natur. So aus-geschnitten die Damen jener Zeit gingen, so wenig wußte doch dernormale Berliner damals wie heute, wie ein nacktes Weib, ein Mannaussieht. Ihr Urteil über die Schönheit einer gemalten nacktenGestalt war ein Vergleichen mit der ihnen bekannten, älteren; dasals schöu empfundenen Ideal war noch immer die Rokokogestalt.Der Rokokozug in Kaulbach war es, der seine Werke als schön,ihn als den erlösenden Meister erscheinen ließ.
Mein Vater erzählte mir, Kaulbach habe ihm zu Ende derdreißiger Jahre seine Zeichnung Das Narrenhaus geschenkt. Siewar entstanden aus einer starken sinnlichen Erregung, nachdem einArzt Kaulbach iu einer Irrenanstalt herumgeführt hatte. MehrereNächte hatte er nicht schlafen können, ehe er die Eindrücke zeichnerischniederlegte. Er hielt damals nichts von diesem Blatt. Denn 1826hatte Kaulbach Düsseldorf verlassen, um Cornelius nach München zufolgen. Er hatte in der Zeit, in der er am Rhein selbständig schuf,einer farbigereu, malerischeren Richtung zugestrebt, hatte in der Naturunmittelbare Anregungen gesucht. Die Genremalerei, welche dortspäter so lebhaft betrieben wurde, hatte auch ihn beschäftigt. JeneZeichnung ist aber nach damaligen Begriffen „Genre"; Cornelius konntean ihr daher kein Gefallen haben. Die Knnst, sagte er, habe überdie vom Genre gebotene Brücke gehen müssen, um Aufnahme beimVolke zn finden; sie sei aber zur Selbständigkeit berufen und müssediese erringen und erhalten, so gut wie die Dichtung. So erstauntKaulbach über den Kunstbetrieb war, den die Kartonmalerci inMünchen eingeführt hatte, so hatte er doch noch nicht die Kraft,ihm zu widerstreben. Bei einem Glase Bier besprachen sich damalsdie Cornelius' Deckenentwürse ausführenden Künstler, welches Ge-wand der gezeichneten Gestalten im Bilde gelb, grün, rot und blauwerdeu sollte; man kam erst in Verlegenheit, wenn diese Farben