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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Delacroix . Französische Romantik.

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neue Gesetze schaffen, sondern die Gesetzmacherei zerbrechen wollte,auf daß dem Menschen die Fähigkeit gegeben werde, nach seiner Artsich auszugestalten, vollkommen frei seinen seelischen und sinnlichenBedürfnissen nachzuleben.

Irgendwer brachte das Witzwort auf, Delacroix male mitbetrunkenem Besen. Geboren in Charenton , der Stadt, in derLouis Philipp damals ein großes Irrenhaus in strengem Stilbauen ließ, mit einem weithin sichtbaren griechischen Tempel alsKapelle, mußte er sein Lebenlang anhören, daß man ihn einenFlüchtling aus seiner Vaterstadt nannte; ihn, der seinerseits jene fürgeistesschwach hielt, die selbst beim Bau eines katholischen Tempelsfür Irre die klassischen Masken nicht ablegen konnten. Seine Bildererschienen der Welt toll, trunken, weil in ihnen die zeichnerische Linienicht klar genug eingehalten war. Das Auge war so deu pyramidalenAufban, die Festigkeit des Umrisses gewöhnt, daß ihm vor DelaeroixsBildern wirr, schwindlich wurde. Das Gemetzel von Chios nannteman ein Gemetzel der Kunst: es fehle die Geschlossenheit; es seienwirre Glieder, kein Kunstwerk; in der Mitte des Bildes ein Blick indie besonnte Ferne: Das war den Beschauern ein Loch im Bilde, daschien ihnen die Hauptfigur so notwendig Hinzuzugehören, daß nurein Narr sie fortlassen konnte. Jeder empfand das, selbst der sichüber die Gründe seines Empfindens nicht klar war. Hier war dieKunst des Aufbaues absichtlich durchbrochen. Wir Nachlebende sehenfreilich, daß der Absicht auf Freiheit so rasch die Freiheit selbstnicht folge; nns scheint das Bild zu sehr in Gruppen zusammen-gehalten, in dieseu fast ängstlich eng zusammengebaut. Wie sotausendfältig wurde ebeu auch hier junge Tollheit zu alter Bedächtig-keit. Delacroix hat es iu der eigenen Lebensführung bewiesen.

Aber er war und blieb einer jener Umgestalter des Geschmackesgleich Turner, die zu allen Zeiten von der besonnenen Kritik fürIrre genommen wurden. Es giebt manche, welche der Welt ihrenquersinnigen Willen anfzwingen, andere, die an dem Widerstandezu Grunde gehen. Es kommt zum Gelingen nicht bloß auf dieKraft des Künstlers, sondern auch auf die Aufnahmefähigkeit desVolkes an. Plötzlich vollzieht sich vor diesem ein sonderbaresSchauspiel: eiu junger Künstler schafft ein Werk, das alle Ver-