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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Ferstel, Bohnstcdt.

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Aber die kunstgeschichtliche Ausgabe der Architektur war noch uichtvollendet. Semper brachte die Hochrenaissance nach Wien , die dannKarl von Hasenauer durchführte; das Barock faud willige Auf-uahme, die Dcutsch-Renaissanee nicht minder. Alle Stile aber erhielteneinen gemeinsamen neuwienerischen Oberstil, und dieser ist entscheidend.Kein Meusch ist vor Hansens Hellenistik, Schmidts Gotik und FerstelsReuaissauce, vor diesen Wiedererweckungen von zwei JahrtausendenBaugeschichte einen Augenblick in Zweifel, daß das Alttümlicheim Grunde nur ein äußerlicher Schmuck, und daß das Wienerischeder starke, entscheidende Teil in diesen Bauten ist. In Wieu istdas Parlamentshans griechisch, iu Pest gotisch. Ju Wien sollte esallgemein ideal, in Pest englisch , das heißt konstitutionell ideal werden.In beiden Füllen ist es modern und deutsch . Der Erbauer desPester Parlamentes, Steindl, ist ein Schüler Schmidts und hattrotz seiner Anlehnungen an Barry, Scott, Waterhouse undandere Engländer nicht mit einem Zuge seine Herkunft verleugnet.Pest erweist sich in jedem Zuge künstlerisch als deutsche Stadt, trotzallem madyarischen Svorenrasseln und Schnauzbartstreichen. Denndie Artuug des Baueus, die Sprache der Profile, die Auffassungder älteren Knnstweise, der zu erreichenden Ziele, nicht die Auf-schristen machen das Weseu der Architektur auS. Und wie dieBerliner Malerei der sechziger Jahre um gleicher Gründe willenfranzösisch ist, so ist und wird wohl noch lange das, was Tschechen,Madyareu, Kroaten und audere Völker des Südosteus bauen, deutsch ,wienerisch sein, ebenso wie das, was sie malen, nichts anderes istals Münchener Kuust von gestern. .

Die breitere Anssassnng des Lebens gab der Baukunst überallAnregungen. Ein Künstler legt dafür Zeugnis ab, der in Berlin gebildete, aber in Petersburg durch eine ins große gehende Bau-thätigkeit der Enge deutscher Verhältnisse entrissene Ludwig Boh li-stest. Er wurde durch den ersten Wettbewerb für das Berliner Reichstagsgebäude durch gauz Deutschland berühmt. Schon vorherhatte er sich unter den Fachleuten einen Namen dadurch gemacht,daß er in der Art des zeichnerischen Darstellens seiner Entwürfedie übliche Ängstlichkeit durchbrechend, gerade dnrch diese die Laienfür seine Kunst zu erwärmen wußte. Er beteiligte sich an allen