Ästhetik des Eisenbaues.
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Gerade bei diesem Vertreter der jüngsten Ästhetik, einem Manne,von dem ich noch viel Belehrung erhoffe, wundert mich diese An-sicht. Meines Ermessens ist sie heute bereits überholt, nicht durchneue baukünstlcrische Leistungen in Eisen, sondern durch den Wandelunseres Verhältnisses zu den Bauten. Freilich läßt sich dies nichtbeweisen, sondern nur feststellen; und zwar kann ich das zunächstnur an mir und dann an der Beobachtung jener, die unbeschränktdurch ästhetische Grundsätze empfinden. Zunächst will mir scheinen,als sei der Eindruck des Unwahrscheinlichen, den früher die Eisen-konstruktion ihrer Haltbarkeit uach erweckte, ganz verschwunden.Ich habe vielmehr überall bei Nichtfachleuten nicht nur Vertrauen,sondern bei schweren Konstruktionen in Eisen stets Unbehagen überdiese Schwere gefunden. Wie sich ein Ägypter alter Schulungwohl erst daran gewöhuen mußte, daß auch die korinthische Säuledie Last eines Steingebälkes trug, und daß sie dieser trotz ihrerSchlankheit mit Sicherheit widerstand; wie der romanische Meisterwohl auch anfangs ein Empfinden des Unbehagens gegenüber dengotischen Bauten hatte — besaß es doch der klassisch Gebildeteebenso — so ist einfach durch Angewöhnung dieser Zweifel beseitigtworden. Die als eisern anerkannte schlanke Stütze wirkt nichtmehr bennruhigeud auf uns Moderne. Die Forderung, das Eisenim Bau als solches sehen zu lassen, es nicht, wie vorher beliebtwurde, zu verhüllen, erleichterte den Übergang.
So empfinden wir jetzt bereits anders als unsere Väter.Die älteren Betrachter eines Eisenbaues werden uns vielleicht vor-werfen, daß wir roher empfinden; wir aber können ihnen dies ruhigzurückgeben. Jene hatten ein vorzugsweise formales, wir ein aufKenntnis des Stoffes begründetes Empfinden; jenen war die fchöneForm, uns ist die richtige, zweckdienliche Anwendung die Grundlagedes Empfindens. Die dicke Eiseusäule widerstrebt uns bereits, wieihnen etwa die zu dicken Beine eines Holztisches oder der zu schwereTräger unter einer Balkendecke.
Auch glaube ich nicht, daß sich der Satz Streiters wirklichausrecht erhalten läßt, die Eisenkonstruktion könne den Zustandglücklichen Gleichgewichts nicht erlangen und mithin nicht zur Er-zielung höherer Kunstgebilde führen. Es müßte erst feststehen,
>urlirt, lg. Jahrh.
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