476
VI. Die historische Schule.
um durch die Form in deren Kern zu schauen, dem wird geradedie formale Vollendung als leichtfertige Flachheit erscheinen.
In zwei Fällen, an der Wiesbadener Reformationskirche undan der reformierten Kirche zu Osnabrück trat zuerst die ausdrück-liche Ausgabe an die Architekten heran, aus dem Programm,wie es die Liturgie giebt, Eigenartiges zu schaffen. 1887 trat einsächsischer Theologe, Emil Sülze, mit der Forderung auf, fürdie Gemeinde einen allen ihren Zwecken dienenden Saal zu schaffen.Ich konnte ihm aus der Kenntnis des Bauwesens in protestantischerZeit nachweisen, daß die von ihm geforderten Formen thatsächlichschon im 17. und 18. Jahrhundert geschaffen worden seien, daß esnur gelte, mit der Aufnahme der Überlieferung nicht bei dem15. Jahrhundert stehen zu bleiben, sondern die folgenden Jahr-hunderte einzuschließen. Bisher hatte man die protestantischen Bautenals auf der tiefsten Stufe der Kunst stehend verurteilt, als Ställe,Scheunen von unwürdiger und, wo sie geschmückt sind, von frivolerGestaltung gescholten. Ein zweiter Geistlicher, Karl Lechter, schrieb1883 in einem Das Gotteshans im Lichte der deutscheu Reformationbehandelnden Buche gegen das Festhängen am Alten nnd stellteForderungen für neue Gestattungen ans, freilich noch stark beein-flußt von ästhetisierenden nnd symbolisierenden Gedanken. Mitdem Erscheinen meines Buches über deu Barockstil stellte sich danneine Reihe von Kämpfern für einen Wandel im protestantischenKirchenbau auf den Plan. Sülze au der Spitze, danu in Darstellungdes Entwickelungsganges Oskar Sommer 1890, in Feststellungder Forderungen für eine Gemeindekirche Chr. Rang 1894, ausden ganzen Gottesdienst Friedrich Spitta 1895, in der Anwen-dung auf die reformirte Kirche G. Frank, auf die bauliche Durch-führbarkeit A. Tiede. Die Flut der Aufsätze stieg um so mehr, alsFragen der kirchlichen Organisation, wie sie Bornemann, Sülze ,Rade, Harnack, Baumgarten und andere gleichzeitig anregten, mitin die des Bauwesens hiueinspielten. Auch au gegnerischen Stimmenfehlte es uicht, namentlich war das Christliche Kunstblatt gegendas Neue Dogma eingenommen, das ihm jenes des alten Nationa-lismus zu sein schien. Die Berliner Architekten suchte ich 1891durch einen Bortrag für die Losung der Frage zu erwärmen und