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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Der Stil des 19. Jahrhunderts. Die Sehnsucht nach Eigenem. 483

können. Die Nachbildung einer antiken Bildsäule, die im 16., 18.und 19. Jahrhundert gefertigt wurde, so sorgfältig sie auch nach-ahmten, ist stets eine andere geworden.

Damals, 1883, nannte ich als das Wesentliche unseres Ban-stiles die tief in unser Schaffen eingedrungene Regelmäßigkeit undGleichförmigkeit, das strenge Einhalten der einmal als schön em-pfundenen Verhältnisse, das Übertreiben in der Richtung desMalerischen, weil dies nicht aus freier Empfindung, sondern auseiner nur mit Entschiedenheit durchführbaren Absicht geschehe, weilein Gefühl für wvhlgeregelte Anständigkeit dem Begabten ebensoein Hemmnis, wie dem Schwachen eine Stütze sei. Der Mangel anUnbefangenheit gegenüber dem Gesetz hemme und hindere unsallerwegen. Aber ich erkannte sehr wohl, daß das treffende Wortnoch nicht gefunden sei, daß jeder von uns noch zu tief im Kampfeder Meinungen stehe, um einen Überblick über die innersten Trieb-kräfte unseres Schaffens zu erlangen. Der Stil unseres Jahr-huuderts sei eben der Streit nm die geschichtlichen Kunstformeu,der Kampf der verschiedenen Stilisten untereinander, das Anlehnenan Viele, das Wiederaufnehmen der Gesamtentwickelung frühererSchaffensart. Auch dies ist eine berechtigte Schaffensform, dessenmußte ich mir schon damals klar werden. War dies doch eineFolge der ganzen geschichtlichen Auffassung der Zeit, die ja auch diepolitischen Formen, die schriftstellerischen Offenbarungen aller Völkerin unsere Gesamtbilduug mit aufnahm. War doch gerade das Auf-bauen des deutschen Reiches aus seiuen geschichtlich gewordenen Ein-heiten im Werke; war es doch die Grundlage für den Volksfortschrittgeworden im Gegensatz zu den zahlreichen Versuchen, aus einemneuen System heraus die Zukunft zu gestalten. In einer Zeit, dieauf einen Bismarck folgt, konnte eine schulmeisternde Ästhetik so wenigwie eine fest geschlossene Kunstform lebendig werden.

Überall klang durch Deutschland die Sehnsucht modern, zu werden.Man hatte genug der fremden Stile, man wollte zum eigenen ge-langen. Die praktischen Meister erklärten dies zumeist noch fürundurchführbar: nur im Anschluß an die Alten sei ein Fortschrittmöglich. Der Schreck vor dem künstlerischen Unvermögen der vorher-gehenden Zeit lag allen noch in den Gliedern. Das Alte allein

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