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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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487
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Mißachtung des Erreichten, Kritische Wandlungen, Wert des Urteils. 487

Tischen mich zu Gaste setzen dürfen, ob es nun dein oder jenemgefällt, daß ich auch seinem Gegner gern Frenud bleibe.

Mein Urteil ist meines und ist nur soviel wert, als ich selbstwert bin. Ich spreche es aus, weil ein innerer Trieb dies von mirfordert, der so berechtigt ist wie der, welcher einen anderen treibtzu bilden, zu malen. Aber es hat keine Giltigkeit über mich hinaus,nnd ich verwahre mich für alle Fälle selbst dagegen, daß mein Ur-teil sich nicht ändern werde. Denn solange wir leben, wechselt derStoff, der nns bildet, und wechselt die Umgebung, von der wir ab-hängen. Niemals habe ich die Absicht gehabt meiu Urteil zumherrschenden zu machen, selbst wenn ich es gekonnt hätte. Dennich halte jeden solchen Sieg für eine Niederlage. Es giebt keinrichtiges Urteil, sondern wie der Wechsel das Wesen einer lebendigenKnnst macht, so auch das eines lebendigen Urteils. Nur werbei Lebzeiten zur geistigen Mumie wurde, wird seine Ansichten überdas Schöne nicht täglich wandeln, manchmal im Sprunge, manch-mal stetig es fortbildend. Sollen wir im Schreiten andere zu derAnsicht verführen, der Punkt, wo wir eben stehen, sei der alleinrichtige? Die Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts lehrt uns vorallem die Verwerflichkeit der Kritik vom höheren Standpunkt,den völligen Znsammenbruch der Anschauung, als gäbe es einensolchen. Wie kann das Nichts über das Etwas, die gänzlich uu-frnchtbare Kritik sich über eiue Kunst erheben wollen, die seinerZeit der Nation, den Besten in ihr die größte Herzensfreude ver-ursachte. Die Kritik wirft der Kunst vor, sie arbeite nur mit ent-lehnten Gedanken. Wo aber sind die selbständigen Gedanken jenerKritiker? Wie viel sind sie wert, gemessen am Werte der Knnst,an der Lebensarbeit eines Cornelius oder selbst eines Defregger!

Mein Urteil ist meines, und nichts liegt mir ferner, als esanderen aufdrängen zu wollen. Wer je Kritik schrieb, hat auch schondie Freude oder richtiger den Ärger erlebt, daß der Leser ihmmorgen das gelesene Urteil als das eigene vorträgt; der Leservergaß schnell, daß er las, daß er Fremdes in sich ausnahm, ohne esin sich zu verarbeiten. Das ist ein sehr lästiger Gedanke, anderendas Selbstdenken abgenommen zu haben, statt an der Vertiefung, ander Berflachung mitzuarbeiten. Denn wie die Knnst meines Er-