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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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VI. Die historische Schule.

an ihr eine erstaunliche Fülle der Gestalt: Es hat sein Geist einelange, tief erfreuende Arbeit im Einprägen aller ihrer Neben-erscheinungen. Er schreitet langsam in ihrer Ausbildung fort, findetin ihr Schätze, die der Flüchtige nie sah; ermüdet trotz seinerGeistesstärke nicht an ihr. Es drängt ihn, sie nicht nur zu merken,sondern sich von dem Gemerkten, vom Umfang seines Erfassens derForm zu überzeugen. Er zeichnet, malt, bildet um das in ihmWirkende, das ihn Beglückende zunächst für sich festzuhalten, sichselbst zu zeigen: das ist ein Künstler. Und sein Werk führt anderendie Forin, die in ihrer Ganzheit doch nicht zu fasseu ist, indem Umfange vor, wie sie sich dem Künstler einprägte. Er lehrtuns dadurch mit seinen Augen die Form iu der Natur sehen,nachdem wir sie in der von ihm vorbereiteten, begreiflicher gemachtenWeise verstehen gelernt haben. Es kostete Jahrhunderte, ehe einStil sich entwickelte und in Mißachtung fiel. Es kostete uns Jahr-zehnte, bis die Stilnachahmung, die vorher schon zu Ende gedachteDarlegung des Gedüchtnisbildes denselben Weg durchschritten hatte:Vorgekautes Brot.

Ein anderer erfaßt rasch das Wesentliche eines Gedüchtnis-bildes, unbekümmert um dessen Feinheiten, und schreitet, da es ihmnur wenig Beschäftigung bietet, rasch zur Ermüdung fort, um zuNeuem zu greifen. Ein dritter hat überhaupt fo wenig Kraft imSchaffen des Gedüchtnisbildes, daß er mit wenigen, ungenügendenVorstellungen ganz zufrieden ist. Alles Neue, für das er keineAnknüpfungen im Hirn findet, erscheint ihm daher feindselig. Beistarker Entwickelung dieser Auffassungen entstehen die Blasierten unddie Idealisten. Die Blasiertheit des Kritikers stammt aus dem zuoberflächlichen Sehen, das ihn glaubeu läßt, mit raschen Blick begriffenzu haben, woran ein Künstler, also ein aus Schauen geschulter, einMeister im Schauen, jahrelang bildend sich erfreute. Wie arm imGeist erschienen die Künstler neben dem Kritiker. Sie plagten sich, ersah nnd entschied sofort. Man kann ruhig sagen: je formenblöder derKritiker, desto rascher und sicherer sein Urteil. Die Ablehnung desNenen bei dem Einen stammt aus der Unfähigkeit, nene Gedächtnis-bilder aufzunehmen. Jeder kommt im Alter zu einem solchen Zu-stand, die meisten werden aber schon in ihrer Jugend alt. In der