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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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519
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Fiedlers Anklagen. Wissenschastlichkeit des Realismus. 519

fängt, sich aus den Banden des Vorurteils und des Aberglaubenszu befreien, beginnt auch der Künstler die Fesseln abzustreifen, indenen ihn die Jahrhunderte alte Überlieferung festhielt; nun beginnter erst seinerseits dem großen aller menschlichen Thätigkeit gestecktenZiele, der Wahrheit, zuzustreben. Nur die Wirklichkeit sei wahr,anßer ihr gebe es keine Wahrheit; nur der kämpfe für die neue,freie Kunst, der die Wirklichkeit erstrebe.

Das Ziel ist die Abstreifung der Herrschaft des Ideals. DieKunst will nicht mehr Mittel sein zur Erreichung ihr fremderZwecke; sie will weder dem Vaterland, noch der Sittlichkeit, nochdem Glauben, uoch endlich der Schönheit dienen; sie wirft jedeFessel ab; betrachtet die Notwendigkeit einer solchen als Vorurteil.Die Alten meinen, es gebe in einein besseren Jenseits ein märchen-haftes Reich des Schönen, aus dem die Kunst ab und zu uusKnnde zukommen lasse. Die nene Kunst kennt nnr ihr Reich,und das ist von dieser Welt. Das Hinübcrlangeu nach jenemder Ideale ist nicht eine hohe That, nicht ein besseres Schaffen; esist nichts als ein Wahn, denn es überschreitet die Grenzen desMenschentums. Wir nehmen auf durch unsere Sinne und könnendas sinnlich nicht Faßbare auch im Geiste nicht begreifen; wir köuuenes vor allem nicht sinnlich wahrnehmbar machen. Wozn eine An-strengung, die das Unerreichbare erstrebt!

Der Realismus rühmte sich seiner Wissenschastlichkeit, wenigstensder französische. Thatsachen feststellen erschien die Aufgabe, nach-dem man so lange über die Thatsachen gefabelt und gedichtet hatte.So wollten auch die Maler an die Dinge herantreten. Sie inihrer ganzen Erscheinung begreisen, ihr Wesen malerisch feststellen.Dabei mußte sich ihnen alsbald die Erkenntnis aufdrängen, daßjede wissenschaftliche Wahrheit ihren Wert hat, daß bei der Fest-stellnng der Thatsachen das Nebensächliche leicht zur Hauptsachewerden kann. Der Maler selbst soll sich verschwinden lassen imKunstwerk, er soll dem Wesen des dargestellten Gegenstandes dasAlleinrecht einräumen. Der Maler soll zum Werkzeug für die Er-gründung des Gegenstandes werden, er soll feststellen, wie dieDinge sind. Er hofft den Beschauer dadurch zn erfreuen,daß dieser die Dinge, die er kennt, in voller Deutlichkeit wieder-