540
VII. Das Streben nach Wahrheit.
Gedanken. Ist's die Liebe zum Gedanken, das Leben im Gedanken,die dem Volk erhalten bleiben soll? Ich dächte, wir hätten dessen über-genug gehabt, als daß wir es uns als höchstes Ziel wünschen sollten.Im Griechischen, sagt das Wörterbuch, heißt Idee die Gestalt, äußereErscheinung, endlich in der Philosophie das Urbild einer Form;bei Plato die letzte begriffliche Gruudgestalt, auf die jedes Er-scheinende zurückzuführen ist. Das unwandelbar Einige, nnr sichGleiche, völlig Reine nnd Uuvermischte, dem gegenüber die Wirklich-keit als ein Gleichnis dieser letzten nur im Denken möglichen Vor-stellung erscheint. Die Idee ist also ein Vernunftbegriff, dasIdeal die Verwirklichung dieses Begriffes. Wir sollen also nichtzu den Dingen selbst Liebe haben, nicht in ihnen leben, sondernuns einen Urbegrisf von ihnen inachen und dieseu höher schätzen,als die Dinge. Nicht die Sache selbst, sondern eine höhere Vor-stellung ihrer Reinheit und Vollkommenheit. Ideale Vaterlands-liebe ist also nicht die zum bestehenden Staat, sondern zu einembesseren, in unseren Gedanken bestehenden. Ideal schön ist das, wasnicht der Sache, sondern der von ihr gebildeten Verstellunggemäß ist.
Wenden wir das ans die christliche Kunst an, auf die Dar-stellung Christi als ihr höchstes Ziel. Dieser ist dem Christen derGottessohn. Als solcher ist er selbst das Ideal, die Verwirklichungeiner nur im Denken möglichen Vorstellung, uämlich Gottes aufErdeu iu Gestalt eines Menschen. Diese Verwirklichung vollziehtsich aber uuter bestimmten Formen: Gott ist der Ewige, Allgegen-wärtige, Allgewaltige. Er hat sich bereits einmal auf Erden ver-wirklicht im ersten Menschenpaar, das nach seiner Gestalt geschaffenwurde. Die Menscheneltern sind, nach der Bibel, die formale Ver-wirklichung Gottes. Wie sie rein aus seiner Hand hervorgingen,sind sie der Ausdruck der Schönheit der Gottesgestalt. Vor demSündenfall haben sie als Ideale der Menschheit zu gelten, die derhöchste Bildner nach dem höchsten Vorbild, nach sich selbst, schuf-Christus aber ist der leidende Mensch, wird geboren als hilfloses Kindund stirbt unseres Todes als Gekreuzigter. Nicht die Größe und dieMacht Gottes wird durch ihn in die Welt gebracht, sondern erwird zum Ideal des Menschen nnd zwar in dessen Verneinung,