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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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VII. DaS Streben nach Wahrheit.

Welt. Sie wollteil den Ausdruck. Die klassische Schönheit griechischerGötter ist aber begründet auf beglückter Ruhe. Der Schmerz ist eindem Ideal nicht zukommender Zustand, das Leiden ist ein Zeugnisder Unvollkommenheit. Gott leidet nicht. Das Ewige ist überder Zerstörung, über dem feindlichen Eingriff. Christus ist alsouicht als der ideale Meusch darstellbar, nicht als das schönste derMenschenkinder, nicht als ein körperliches Ideal. Die Kunstkann nur Körperliches darstellen. Sie kann die Leiden nur inihreu Äußeruugeu schildern, nicht die inneren Wirkungen; denSchinerz nur in seinem Eingreifen in das ideale Gleichgewicht desKörpers. Den Menschensohn, wie ihn die Evangelisten schildern,kann sie nur durch gewisse der Schönheit entgegengesetzte Dingekennzeichnen. Wer der Welt Sorge trägt, der mag von jeneminneren Gleichmut gewesen sein, daß die Sorge sich in seinemÄußeren nicht kennzeichnete. Wer aber den Träger der Weltsorgedarstellen will, der kann diesen Gleichmut nicht geben, er mnß inKopf und Haltung die Wirkung der Sorge schildern, denn dieseallein ist sein AuSdrncksmittel. Das heißt, die ideale Schönheitmuß eine Verzerrung erleiden, namentlich wo die Kunst über daseinfache Andachtbild, über die Darstellung in der Ruhe hinaus-geht, deu handelnden, leidenden Heiland sich zur Aufgabe stellt.

Sie kann auf zwei Diuge das Hauptgewicht legen. Auf dasStreben, die Schönheit zu wahren, das erhöhte Menschentum; oderauf das Streben, den Ausdruck wirksam zu machen, die seelischeSeite betonend. Immer haben ernst gläubige Zeiten das letzteregethan. Das 15. Jahrhundert in seiner Gewissensangst bis zurDarstellung erschütterndsten Elends, das 16. in Holbein nnd Dürer durch ihren mächtigen Realismus. Vor Holbeins toten Christuskann man darüber streiten, ob hier uicht lediglich ein Akt gegeben sei;ebenso vor jenem Mantegnas. Nur die Inschrift lehrt uns, daßHolbein den Leichnam des Herrn darstellen wollte. Weltlich gestimmteZeiten, wie das Rom Leos X. sind dem Bilde des Gekreuzigtenaus dem Wege gegangen, haben dafür den Thronenden, den schöueuJüugliug eingestellt. Der Rationalismus eiues Thorwaldseu,Schiukel und ihrer Zeit hielt sich nur an diesen. Sie konnten denLeidenden nur sehen, wenn man ihm nicht anmerke, daß er leide.