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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Seichtheit des Idealismus.

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Sie sind von jener Art Wohlthäter, die geben, um das Elend nichtsehen zu müssen. Mit ihnen ist die schönheitliche Phrase in dieWelt gekommen. Der Kopf mit zu langer Nase, zu weit aus-einander stehenden Augen, für einen denkenden Menschen zu glatterStirn; der Körper mit zu kleinen Händen und Füßen und zulangem Leibe; die Haare zu sorgfältig gepflegt. Von einem derBrüder Grimm las ich einmal als Beurteilung eines Mannes dasWort: er war einer jene unangenehmen Erscheinungen, die maneinen schönen Mann nennt. Das Unbehagen vor einem solchenhabe ich vor all den geschniegelten, pomadisierten Christnsköpfen,die ideal sind. Die Idealisten sehen nicht und wollen nicht sehen,daß das von ihnen geliebte ideale Bild weiter nichts als einestilistische Verzerrung der Natur ist, eine in den Mitteln nicht ebensehr geistreiche, in der Wirkung für den, der die Menschen kennt,abstoßende Modefigur. Dieser Idealismus ist die Steigerung einerursprünglich ernsten Auffassung menschlicher Schönheit, die dein,der ihrer müde wurde, als Hohn auf den Ernst der künstle-rischen Aufgabe berührt. Man möge das erste beste Modejournalin die Hand nehmen und wird dort den gleichen Idealismusfinden, die gleiche Übertreibung eines Formengedankens, die gleicheMißhandlung der menschlichen Verhältnisse. Leute sind da gezeichnet,über die mau lacheu würde, begegnete man ihnen im Leben. DasStreben nach Schönheit ist in ihnen auf einen Gipfelpunkt getrieben,bis dahin, wo sie dem künstlerisch tiefer Sehenden zum Hohn aufEdles, zum Abscheu, zur Laugeweile wird.

Die ideale Gestalt Christi ist notwendig mehr als eine. Es wirdschwer der Knnst gelingen, eine überall befriedigende zu finden. IhreMittel reichen nicht dazu aus. Christus ist nicht der Gesunden undGerechten wegen in die Welt gekommen, er ist der Erlöser derLeidenden und der Sünder. Die Kunst soll auch diesen ihrenHeiland bieten: der hysterischen Nonne den himmlischen Bräntigamund dem Verbrecher den gewaltigen Weltcnrichter. Eine Gestalt,die beides zugleich ist, kann die Knnst nicht erfinden. Es hilftnichts, es von ihr zu forderu, man begehrt umsonst Unmöglich-keiten. Christus muß in der Kunst mehrerlei Gestalt erhalten, jenachdem er in seinem Amt aufgefaßt wird.