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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Realistische Versuche.

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die rationalistische Darstellung hm. Denn er rief in der Wieder-gabe Jerusalems in seiner ganzen Großartigkeit, in der Echtheit derlandschaftlichen Stimmung den unwillkürlich sagenbildenden Geistans. Wie draußen auf Golgatha, in der von Piglhein gemaltendüsteren Stimmung dem gläubig Erregten selbst der Lärm trink-gelddurstiger Orientalen nicht die Sehnsucht vertreiben kann, zurück-bildend sich in den ungeheuren, vor neunzehn Jahrhunderten sich hierabspielenden Vorgang zu versenken, so störte die Beschauer dieserBilder nicht die Nebenfrage von Kleidimg und Gerät und noch vielweniger das Gefühl, daß sie eiue wahrheitliche Schilderung gegen-überstehen, nicht Rationalismus, noch Realismus.

Ich sah das Panorama in München und sah dort Geistlicheund fast möchte ich sagen Pilger in stummer Bewnnderungund Andacht. Die stärkste Absicht auf Realismus, auf eigentlicheTäuschung, also auf das, was stets als das verächtlichste undthörichteste in der Kunst galt, hat also nnr auf deu , der sich solcherästhetischer Gesetze bewußt war, störend gewirkt. Die Gesetze warenalso wieder nur ein Hindernis, Kunst zu würdige«; die von ihrgesteckten Grenzen waren vom Wert der alten Schlagbäume: Ver-kehrshindernisse, aufgestellt zum Vorteil herrschsüchtiger Machthaber.

Die Kleiderfrage, die so vielfach von den Bildhauern behandelte,greift auch hier eiu. Jene, die Christus als Orientalen malten,haben wohl sachlich das Richtige gefunden. Ob aber das sachlichRichtige für uns die Wahrheit ist, ist noch eine offene Frage.Wirklichkeit uud Wahrheit decken sich auch hier nicht. Jene Bildergeben gewiß vortrefflich den Christus wieder, an den die zwischenAlgier nud Konstantiuopel heimischen Christen glauben können.Zu uns spricht die neumodische orientalische Welt so wenig dieSprache der künstlerischen religiösen Überzeugung als die abgedroscheneitalienische des 15. Jahrhunderts. Unser Unglück ist, daß unsereeigene Zeit sich zu wenig harmlos zu geben vermag, zu sehr unterder Herrschaft der Geschichtswissenschaft steht, als daß wir es machenkönnten, wie die großen religiösen Meister vergangener Zeiten, bisauf Tiepolo hinab, welche die heiligen Vorgänge in ihre eigene Zeitversetzten. Die alten Juden, die in den orientalisierenden Bil-dern erscheinen, mögen echt aus Jerusalem stammen. Ich sehe in

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