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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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VIII. Die Kunst aus Eigenem.

der europäische Beschauer habe mit gebieterischer Notwendigkeiteine Laterne darauf gewünscht. Nuu haben erst seit St. Peter dieKuppeln Laternen. Für ältere Europäer galt die Notwendigkeitnicht. Der Erbauer der Agia Sophia in Koustantinopel nnd desPantheons in Rom kamen ohne sie aus. Bernini , der nachMichelangelo Schaffende, empfand aber die gebieterische Notwendig-keit, dem Pantheon Türme anzufügen. Mau nannte sie späterseine Eselsohren. Diese Notwendigkeit ist eben nichts als die Herr-schaft der architektonischen Phrase. Das Reichstagsgebäude hat eiueLaterne, freilich eine von besonderer Art, meiner Ansicht nach einerder glücklichsten Teile des ganzen Werkes. Sie schließt das Glas-dach über dem Sitzungssaal nach oben ab und hebt die Kaiserkronehoch über diesen empor. Das Glasdach aber hat die Form einessolchen, und zwar scheint es mir sehr glücklich aus der Konstruktionentwickelt. Nur wer vor der Phrase sich beugt, der fordert dieGestalt von St. Peter, eine Kuppel. Wer aber glaubt, daß auchdas schönste Glasdach wie ein Glasdach aussehen müsse, der wirdwohl auch meiner Ansicht sein, daß Wallot den rechten Ausdruckfand, uud daß sein Entwurf eine befreiende That ist. Denn sogewaltig Michelangelo uns gerade in seiner Kuppel erscheint, sowenig kanu ich ihre Nachahmung, namentlich am falschen Platzfür Heldenwerk halten. Wenn aber erst Wallots Kuppel aufhundert Bauten nachgeahmt sein wird, dann wird man finden, daßes einfach selbstverständlich war, sie so und nicht kirchlich zu ge-stalten. Dann wird auch sie die gebieterische Notwendigkeit vor-schreiben.

Ähnliches leistete A. Messel bei dem jetzt so gefeierten Bau einesGeschäftshauses in der Leipziger Straße in Berlin . Er vermiedmehr die geschichtlichen Formen als Wallot nnd hat dadurch mehrden Beifall des Neuesteu erreicht. Mir scheint dies minder wichtigals die Thatsache, daß ein nüchternes System, einfach und zweck-mäßig durchgeführt, heute schou selbst auf die Menge als schönwirkt. Hütte Messel denselben Bau vor zwanzig Jahren errichtet,so würde er allgemein ausgelacht worden sein. Nicht etwa sindwir heute so sehr viel klüger uud habeu so sehr viel größereKüustler, nein, nur unsere Auffassung dessen, was schön ist, änderte