514 X. Geistes- und Nervenkrankheiten und gerichtliche Medizin.
Aber ganz konnte sich auch diese humanitäre Einrichtung demGeiste der Zeit nicht entziehen, denn die Jrrenabteiluug wurde als„Kerker der Wahnsinnigen, die in Ketten liegen" bezeichnet, oderals „Gefängnis der Angefochtenen". Die Psychiatrie war keinLehrgegenstand' mitunter beschäftigte sich ein Lehrer der innerenMedizin damit, weil er durch die Verhältnisse gezwungen war:eine Fortbildung konnte nicht stattfinden und fand auch nicht statt.Man betrachtete die Geisteskranken in den besten Heilanstalten fürein erux misera, die man eben ertragen mußte, aber aus demreichen Material zu lernen, die Lage der Kranken zu verbessern,daran dachte, wenigstens bei uns in Deutschland , kein Mensch.Daß die Besserung von Frankreich ausging und zwar zur Zeit dergroßen Revolution, kann an sich nicht wundernehmen, weil ja da-mals auch andere Schranken durchbrocheu wurdeu, die den Jahr-hunderten getrotzt hatten. Philipp Pinel , dessen wir früher schongedachten, kam znerst auf den Gedanken, daß es sich bei deu Geistes-krankheiten, ebenso wie bei den körperlichen Afsektionen um Ver-änderungen bestimmter Teile des Körpers, also in speois um solchedes Gehirnes drehe, daß man damit auch an eine Heilung dieserZustände denken müsse und vor allem gezwungen sei, den Krankenein menschenwürdiges Dasein zu verschaffen. So nahm er ihnendie Ketten ab, freilich gegen die Meinung der damals leitendenGeister, die seine Tollkühnheit nicht verstehen konnten, und warder Begründer der modernen Jrrenbehandlung, die sich aber nurlangsam, sehr langsam aus dem bescheidenen Anfange, den Pinel mit seiner That gemacht hatte, entwickeln sollte. Gekrönt wnrdedie von Pinel inaugurierte neue Lehre von der freieren Behand-lung der Geisteskranken durch das aus England stammende: „5so-rsstraint-L^sköiu" von John Couolly.
Der berühmteste Schüler Pinels war Jean Etienne Domi-niqne Esquirol (1772—1840). Er wnrde durch die Revolutionvon seinem eigentlichen Studium (der Theologie) abgezogen undwidmete sich später der Medizin. Frühzeitig lernte er Pinel kennen, welcher ihn sehr schützte und zu seinem Mitarbeiter in derHerausgabe der „NkcZsoins clivitzus" machte, sowie ihn in diePsychiatrie so weit einweihte, daß Esquirol schon 1800 eine