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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: cle sidels«.

in unserer Zeit. Allen voran war es Medizin und Naturwisseu- schast, deren Nutzen für das Leben freilich auch am leichtesten ein- leuchteud gemacht werden kann. Die Wissenschaft der Hygiene griff mächtig in das öffentliche Leben ein und berührte sich durch ihre Forderung von Licht und Luft und Wasser gerade auch für die armeu Klasseu der Bevölkerung in den großen Städten oder von Volksbädern und Lungenheilstätten mit den übrigen Be­mühungen um die Lösung socialer Aufgaben. Von dieser Seite war ja auch eiu Anstoß zur Schulreformbewegung ausgegangen, indem allerlei Übel wie Kurzsichtigkeit oder gar die Zunahme des Wahnsinns vor allem den höheren Schulen zur Last gelegt wurden. Namentlich bedeutsam wurde die Bakteriologie mit ihrer Lehre von der Übertragung der Krankheiten durch Pilze; doch hat die Therapie aus dieser neuen Theorie noch nicht allzuviel Gewinn gezogen; wir kennen den Cholerabacillus und andere gefährliche Mikroben, aber sie im Kranken zu töten, haben wir noch nicht gelernt. Nur das von Behring gefundene Serum gegen die Diphtherie hat sich als er­folgreich praktisch bewährt. Dagegen war die Art und Weise, wie Kochs Tuberkulin verfrüht iu die Öffentlichkeit hiuausgegebeu, mit wahren Triumphtrompetenstößen angepriesen und mit wildem Taumel des Entzückens vom Publikum begrüßt wurde, ein Zeichen, wie auch die Wissenschaft dem allgemeinen Massen- und Reklamegeist des zu Ende gehenden Jahrhunderts ihren Tribut bezahlt. Und wenn wir sehen, wie eine auf die Sensationslust berechnete Theorie wie die von Schenk über die Vorausbestimmung des Geschlechts der Kinder völlig nnreif uud haltlos ins Publikum hineingeworfen wird, nnr um die flüchtige Aufmerksamkeit einer Stnnde auf sich zu ziehen, so können wir es wohl begreifen, wie mißtrauisch das­selbe vielfach dem medizinischen Können und Wissen gegenübersteht und entweder Schwenningers witzig vorgetragenem Skeptizismus verfällt oder sich an den nächsten besten Kurpfuscher hält, der günstigeren Falles wie Kneipp längst Bekanntes und Bewährtes in origineller Form und mit einer von Wissen nicht getrübten Einseitig­keit keck und kühn auf jeden Fall zur Anwendung bringt. Vollauf berechtigt war dagegen das Aufsehen, welches die Entdeckung der Nvntgenstrahlen machte; hier lag die wissenschaftliche Bedeutsam-