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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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108
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108 1820-1830.

eben noch nicht reif zn künstlerischer Erfassung der ganzen Wirklich-keit. Der erste große Realist des neunzehnten Jahrhunderts fälschtedie Natur, die er zuerst nicht mehr durch konventionelle Ver-schönerung entstellte, durch moralisch-pädagogische Tendenzen.

Gotthelf ist vor allem der unerreichte Meister der Bauern-psychologie. Voß und Kosegarten nnd wie viel Spätere habendas Landleben ausgesucht, weil sie dort einfachere Charaktere zufinden meinten. Wie weit steht der Berner Pfarrherr ab vondieser herkömmlichen Zeichnung dereinfachen Bauernseele"! Erkennt alle die Falten und Furchen, die Besitz und Familienstolz,Lebensart und Erwerbssorm in die Physiognomie des Großbauerneingraben; er kennt die Diplomatie des Bauernhauses, die Kämpsein der Gesiudestube. Und indem er diese Kämpfe, diese Verhand-lungen, diese Umgangsformen mit der treuen Ehrfurcht schildert,die ein alter Rhapsode auf Schlachten und Botengänge und An-reden seiner Heldeu verwendet, gewinnt seine Darstellung, wie wiederKeller hervorhebt, epische Größe gerade wie man Millets Land-schaftsbildermoderne Historienbilder" genannt hat. Keller hebtEinzelheiten hervor, jene uralt volkstümlichen Gänge besonders, indenen man sich von einem Hof zum andern Rats erholt, Bot-schaften sendet, Freude und Trauer übermittelt. Oder die feierlichkühlen Brautwerbungen, in denen nie von Liebe die Rede ist; undwie echt homerisch istdie behagliche Anschaulichkeit des Besitzes,der Einrichtung von Haus uud Hof, der Zahl und Art der Haus-tiere, der fest- und werktäglichen Gewandnng, des Essens undTrinkens!" Durchsättigt ist alles von sicherster Anschauung; keinNagel an der Wand ist nurgedacht", jeder sitzt greifbar an derStelle, wo allein er hingehört.

Das gilt nun auch von dem vielbernfenenSchmutz" beiGotthelf . Auch das ist altepisch, daß das Widerwärtigste nirgendverschwiegen wird, so wenig wie etwa in der Bibel bei der Schil-derung von Hiobs Elend. Es stände gut um Jeremias Gotthelf ,wäre das sein einzigerKunstfehler", daß er den Schmutz mit inseine Schilderung aufnimmt und mit den kräftigsten Ausdrücken be-nennt. Hier gehört das her. Ein vereinzelter Schmutzftrcifen aufeinem wohlgewaschenen Gewände wirkt peinlich; aber der großeDüngerhausen gehört zum Bauernhof. Ja Gotthelf gelangt geradehier zu wahrhaft großartiger Wirkung. Die unvergleichliche Scene,wie die beiden nm Ulis Gunst ringenden Mägde in die Dunggrube