Signatur der Zeit.
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Kritik, vereint mit schöpferischer Phantasie. Darum ist auch diewissenschaftliche Tendenz die herrschende Tendenz der Zeit. DieParole von der unbedingten Herrschaft der Forschung — worunterman im Grunde immer nur die Naturforschuug verstand — findetihren lautesten Ausdruck in den materialistischen Manifesten KarlVogts („Köhlerglaube und Wissenschaft" 1854) und LudwigBüchners („Kraft und Stoff" 1855); aber auch Hettners Polemikgegen alle spekulative Ästhetik oder Mommsens Kunst, der Geschichts-forschung von der Epigraphik, der Münzkunde, der Dialektforschungund der Rechtswissenschaft neue exakte Stützen zu gebeu, auch Burck-hardts uud Brunns Beschreibt! ng der Kunstwerke — es sind allesAnerkennungen der neuen exakten Methode, es sind alles Protestegegen das Übermaß von poetischer Phantasie, das bisher in derWissenschaft so vielfach geherrscht hatte; gegen das Übermaß, dennein gerechtes Maß von Phantasie konnten große Historiker wieBurckhardt und Mommsen, Meister der Schilderung wie Karl Vogt und Gregorovius am wenigsten entbehren.
Schlimm stand es aber, wo die Phantasie fehlte. Ihre Selten-heit schuf aus dieser Periode eine Zeit der Klugheit und des Besser-wissens. Die Alleinherrschaft der litterarischen Kritik bricht an.1850 hat Friedrich Zarncke (1825—1891) das „LitterarischeCentralblatt" gegründet, auf lange Jahrzehnte das einflußreichsteOrgan der wissenschaftlichen Tageskritik, ein ausgezeichnet geleitetesBlatt mit vortrefflichen Mitarbeitern (ich nenne nur Treitschke),das dennoch als Ganzes verhängnisvoll gewirkt hat. Denn es stelltedas Prinzip der Anonymität auf und wo man sonst die wohl-bekannte Persönlichkeit eines bestimmten Recensenten ans seine mora-lische und wissenschaftliche Tauglichkeit, seine Voreingenommenheit,seine Sachlichkeit hatte prüfen können, umhüllte jetzt der Nimbuseines offiziellen Privilegs den großen Unbekannten. Man sagtenicht mehr: „Garlieb Merkel zieht über Goethe her", sondern: „dieKritik verurteilt dies Werk". Von diesem Heiligenschein der objek-tiven, rein sachlichen, allezeit kompetenten Kritik — hinter dem sichnur zu leicht das Gegenteil verbergen konnte — profitierte auch daslitterarische Recensententnm und wirkte mit einer Sicherheit desUrteils, die zu dessen Begründung meist in lächerlichem Widerspruchstand, verwirrend sowohl auf das Publikum wie auf die Produktion.
Es war die Zeit, in der die schwächste Kunst, die Deutschland seit lange besessen, mit Posauuenstößen gefeiert wurde, während
Meyer, Litteratur. 33