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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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1870-1880,

bolen; mehr lyrische Kraft liegt in dem einfachen Bilde des altenHerrn im historischen Eckfenster, zu dessen liebem Gesicht sich dieBevölkerung in dankerfülltem Jubel Tag für Tag drängt, als inall dieseu gekünstelten Rhythmen.

Hier treffen wir in greller Deutlichkeit jene Überhebung desfalschen Idealismus, die alle Wirklichkeit verachtet, so lange sie nichtmit den traditionellen Mitteln einer hieratischen Poesie aufgeputztist. Der Dichter hat keine Ehrfurcht vor der geschichtlichen Wahr-heit; er verschmäht es, das Bild zu benutzen, das die Phantasie desVolkes von seinen Heroen entwarf; er stilisiert nach eigenem Gut-dünken unter Anleitung akademischer Prinzipien. So aber darf mannicht umgehen mit dem heiligsten Gut einer Nation. Sünde istdas, schlimmer als der tendenziöse Mißbrauch, den das Junge Deutsch-land mit Moliere oder Friedrich Wilhelm I. oder dem jungenGoethe trieb. Hier scheiden sich die Wege. Heißt das Idealismus,so gilt es das deutsche Volk und die deutsche Poesie davor zuwarnen. Wir wollen unsere menschlich-wahren Helden, den altenFritz mit der Schnupftabaksdose und Bismarck mit dem Schlapp-hut; wir wollen keine Sonnenkönige Boileaus und keine historischenOperndichtungen, wie die Hofpoeten des Rokoko sie verfaßten. Unsscheint die große Wirklichkeit der deutschen Geschichte zu gut, umals Rohstoff für akademische Poetisieruug zu dienen.

Wir können deshalb in Wilhelm Jordan , in Robert Hamer-ling, in Ernst von Wildenbrnch nur litterarische Reaktionäre sehen.Aber wir ehren in ihm wie in ihnen den tapferen Idealisten, denehrlichen Bekenner. Denn niemand wird zweifeln, daß er dievollste subjektive Wahrheit in seine Schöpfungen legt. Als einPriester fühlt er sich. Der mittelgroße, korpulente Mann mit demlebhaft geröteten kurzsichtigen Kopf, dem starken Schnanzbart, denlebhaften Bewegungen sieht immer aus, als sei er von weltfernenDingen in Anspruch genommen, die aber dringend, eilig, nötigstsind; und das ist auch seine Empfindung. Diese naive Vor-stellung von der Unentbehrlichkeit nicht nur der Poesie überhaupt,sondern seiner Poesie, macht die Gestalt menschlich so liebens-würdig: wir fühlen die volle Selbstlosigkeit eines hingebendenGemütes, das den Zeitgeschmack und die Zeitkritik überhört undtapfer auf dem Posten bleibt, den es sich zugewiesen glaubt. Wirverkennen auch nicht, daß Wildenbruch ans seinem Glauben herausdieser Zeit manches zn bieten hat, was sie sonst vermißte. Vor