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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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18701880.

Schwalbe baut sich ihr Nestchen hoch oben an den eisernen Rippendes ungeheueren Glasgewölbes; unten sausen die mächtigen Eisen-bahnzüge, drängt sich der Weltverkehr, häufen sich die Güter vonallen Enden der Welt; oben verklebt sie ihr Häuschen mit etwasStroh und singt ihr fröhliches Lied. So ist Seidel fast wie imTraum von dem stillen kleinen Heimatsort in die Weltstadt ge-flogen (Von Perlin nach Berlin , Aus meinem Leben" 1894) unddoch mit der Seele immer im kleinen Nest geblieben; so baut ersich iu der lärmenden, stöhnenden, kämpfenden Verkehrshalle unsererneuesten Litteratur sein enges Heim und singt sein leicht etwasspielerig, aber immer hell und selbst in der Tragik golden an-klingendes Lied (Glockenspiel", gesammelte Gedichte 1889). DieKraft eines Reuter oder Rosegger , die Phantasie Hoffmanns oderden Geist Jean Pauls hat der Neuschöpfer der Großstadt-Idyllesich von seinen Paten nicht schenken lassen können, aber vor ihnenhat er seinen reinlich und zierlich gefügten Stil voraus, der ausjedem Satz ein niedliches Ruhebettchen macht.Wo ist die Sonne,die Sonne soll noch einmal kommen, sie hat noch niemals einenso glücklichen Esel gesehen!" Wer verweilt nicht gern mit heitermLächeln auf solch einem Satz? Seidel hat das verlorene Geheimnisaltmodischen Glücks wiederentdeckt: er hat Zeit. Das bedeutetetwas in der Periode der Wildenbruch und der Nietzsche . Wie seinHühnchen jede Freude noch in zwanzig Schnittchen zerschneidet, umlänger daran kauen zn können, so zerlegt sein Autor jede Minutein ihre Sekunden und findet so immer Zeit, zwischen zwei ernsteMomente einen fröhlichen einzuschalten und das Traurige so kleinzu machen, daß es aufhört, zerstörend zu wirken.

Diese Kunst des mikroskopischen Erzählens hat JohannesTrojan (geb. 1837 in Danzig ) in seinen Plaudereien (Für gewöhn-liche Leute" 1892) bisweilen zu stark ausgebeutet. Aber wo er sich involler Muße ergehen kann, da wird der Verfasser derScherzgedichte"(1883) zum glücklichsten Schüler I. V Scheffels. Zu den lustigenLiedern aus Nnturwissenschaft und Technologie oder reizendenhisto-rischen Romanzen" wiedes Edlen von Strolzach Ausfahrt" kommtnoch der realistische Humor seiner köstlichen Bildervon der Börse"undaus der Weltstadt" hinzu. Der Geist der Parodie dient beidem für Bismarck und das Reich, für ernste Tüchtigkeit und Zu-verlässigkeit kümpfenden Manne doch immer höheren Zielen; es fehltjener leicht faulige Geruch einer sich über alles lustig machenden