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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Michael Georg Conmd.

Heinrich Seidel .

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zu einer ironischen oder humoristischen Auffassung, zu Parodien(Salve Regina" 1899) und satirischen Zukunstsdichtungen (Inpurpurner Finsternis" 1895). Humoristen finden wir auch sonstneben so vielen romantischen Elementen im Kampf gegen den ab-gestorbenen Nachklassicismus; gerade wie um 1800 zwei litterarischeMächte gegen die Herrschast der Klassiker fochten: die Romantikund Jean Paul .

Heinrich Seidel (geb. 1842 zu Perlin in Mecklenburg ) ge-hört zu den Glücklichen, denen es gelingt, eine typische Figur zuerschaffen, und der stillvergnügte Leberecht Hühnchen (1882;1898 in 32. Auflage!) hat etwas mehr zu bedeuten als die Platt-gescheite Frau Wilhelmine Buchholz Stindes oder gar als Stetten-heims moderner Meisterlügner Wippchen. Seidel , von Haus ausIngenieur er hat die Berechnungen für das Gewölbe der Riesen-halle des AnHalter Bahnhofs in Berlin gefertigt hatte schoneine ganze Reihe von Novellen (Rosenkönig" 1871), kleinen Er-zählungen (Vorstadtgeschichten" 1880), Gedichten (Blätter imWinde" 1872) veröffentlicht, in denen sichdas Talent, wunderbareDinge zu erleben" schon in hübschen Kleinigkeiten zeigte; aber erfand keine Beachtung. Unbeirrt ging er weiter der Kultur seinerzierlichen kleinen Spalierröschen nach und mit Leberecht Hühnchenwar er berühmt, hatte eine Gemeinde und auch für die späterenSchriften (Neues von Leberecht Hühnchen nnd anderen Sonder-lingen" 1888, in 19. Auflage 1898;Leberecht Hühnchen alsGroßvater" 1890) ein dankbares Publikum. Und mit vollemRecht. In dem naiven Instinkt dieses Erzählers moderner Märchenlag mehr Verständnis für das poetische Bedürfnis der Zeit, als inder ausgeklügelten Doktrin eines Heinrich Hart , der immer noch nichtbegreifen wollte, daß auch für die Litteratur die Periode derextensiven Wirtschaft" vorbei und die derintensiven Kultnr" ge-kommen ist. In dem putzigen Sonderling aus der Familie vonJean Pauls Schulmeisterlein Wuz, der sich aus jedem Erlebnisein Fest macht und aus jedem Rosenstock eiuen Feengarten, in diesemprächtigen Leberecht Hühnchen steckt auch etwas von dem GefühlNietzsches: das Leben ganz auszukosten, darauf komme es an. Undgleichzeitig ist dieses menschgewordene Idyll die humoristische Negationalles Übermenschentums, alles Ausgreifens, alles titanischen Sehnens.Willst du immer weiter schweifen? sieh, das Gute liegt so nah: lernenur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da." Die