DAS LATEIN ALS HUMANISTENSPRACHE 5 I
bekannte humanistische Einstellung, künstlich die Sprachentwicklungeines Jahrtausends zurückschrauben zu wollen; wir bezeichnen sie heuteals ihren großen Irrtum. Aber gehen wir nicht zu weit mit dem vernichten-den Werturteil über die Humanistensprache als «tote Sprache», währendetwa die fast literaturlose, aber freilich von ein paar Tausend Bauernim Engadin und andern Alpentälern gesprochene romanische Sprache alslebendig angesehen wird ? Mag das auch nur eine sachlich philologischeUnterscheidung sein, es ist eine bedenkliche Folgeerscheinung dieserEntwertung 7 , daß im allgemeinen die Gebildeten heute das Humanisten-latein nicht als vollgültige Ausdrucksweise anerkennen. Fordern wir abervon der Lebendigkeit einer Sprache, daß sie fähig sein muß, geistigerAusdruck von bedeutenden Lebensschicksalen zu sein, so hält das Lateindes XV. Jahrhunderts, mit dem wir es zu tun haben, dem zeitgenössischenItalienisch, was die Ausdrucksmöglichkeit anlangt, wohl die Wage, ab-gesehen davon, daß es noch die gemeinsame Umgangssprache der Ge-bildeten der ganzen abendländischen Welt war. Freilich schnitten sichjene Italiener, die als Sprache nur Lateinisch wollten, die große Über-lieferung ihrer eigensprachlichen Literatur ab. Verkennen sie aber ihregrößten Dichter, so müssen wir das als Verblendung bezeichnen. Dochist zu beachten, daß selbst Dante das Italienische als Sprache für seinberühmtes Werk nicht etwa aus Geringschätzung des Lateinischenwählte, sondern aus Bescheidenheit, weil ihm das, was er darstellenwollte, zu gering dünkte für die geheiligte lateinische Sprache Vergils.Es darf nicht wundernehmen, wenn man auch über Dantes italienischesDichten dieselben bedauernden humanistischen Stimmen wie bei LeonardoGiustiniani hört. So Raphael Maffei 8 aus Volterra, der wie Sabellicusein Menschenalter jünger ist als Barbaro und ein dickleibiges enzyklopä-disches Werk verfaßt hat, in dem eine ähnliche literaturgeschichtlicheBetrachtung der jüngsten Vergangenheit seiner Zeit steht wie die ebenerwähnte, nur daß Maffei nicht so ausschließlich wie Sabelücus die neuelateinische Epoche erst mit Barzizza beginnen läßt, sondern mit demDreigestirn Dante, Petrarca, Boccaccio, freilich nur um ihrer lateinischenWerke willen. Bei Dante rühmt Maffei dessen ausgebreitete Studien. Beider Göttlichen Komödie bedauert er, daß sie Dante nicht lateinischgeschrieben habe, wie er anfangs wohl die Absicht hatte; aber darin habe