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RELIGIÖSE VERTIEFUNG
Bernardinos Tätigkeit «ist zum größten Teile eine politische gewesen,Beschwichtigung von Parteikämpfen, Versöhnung von Blutfehden; dennwie im griechischen Altertum macht die Zerrüttung der bürgerlichenGemeinwesen, die alsdann sich fortpflanzt bis in den Schoß der Familie,von Zeit zu Zeit den Entsühner notwendig, der eine gewaltige Er-schütterung der Deisidaimonia hervorzurufen vermag 4 ». Die unmittelbareFolge war eine allgemeine Zerknirschung, so daß die Sünder augenblick-lich in sich gingen, oft aber auch nur augenblicklich; es konnte nämlichgeschehen, daß Bernardino nach drei Jahren in dieselbe Stadt wieder ein-kehrte, wo die Bürger, die er so erschüttert hatte, nicht nur wieder umdas goldne Kalb tanzten, sondern sich aufs neue mit allen Freveln undGreueln von Mord, Notzucht und Schändung beladen hatten, was erdann selbst in donnernder Anklage von der Kanzel herab verkündete.Immer von neuem mußte er die Frevler entsühnen und die Wilden sänf-tigen. Jedoch fand er nicht überall die gleichen Aufgaben vor, noch warenallerorten die gleichen Laster zu bekämpfen. Kam er nach Venedig, dasden sichersten Frieden seit jeher verbürgte, so hatte es dort keinen Sinn,wie andernorts über Eintracht zu predigen; deshalb redete Bernardinoden Venezianern über die Moral des Handeltreibens ins Gewissen. Diepolitischen Verhältnisse waren zwar in der Hauptstadt Venedig selbst invorbildlicher Ordnung, aber in den jüngeren Erwerbungen auf demFesdande mußten die venezianischen Statthalter erst für Ordnung undGesittung sorgen; sie hatten also das gleiche Bestreben wie der Heilige,der z. B. in Brescia am Himmelfahrtstage gegen die uralte Volkssitte derUmzüge von Stieren und Huren auftrat. Ein Jahr später aber, als derHeilige nicht mehr von der Kanzel dräute, war alles wieder beim alten,und man ergötzte sich aufs neue am althergebrachten Umzug.In der Gleichartigkeit des Zieles bei Prediger und Podestä muß manden ersten Berührungspunkt zwischen Francesco Barbaro und Bern-hardin von Siena suchen. Ihre Begegnung fand im Jahre 1423 in Tre-viso statt, wo Barbaro als Podestä seine Beamtenlaufbahn begann. So-lange er lebte, bewahrte er dem berühmten Prediger und denen, die ihmfolgten, die größte Verehrung. Zeitweise schien er wie sein Mitschüleraus der Schule Guarinos, Alberto da Sarteano , der Überzeugungskraftzu erliegen, mit der Bernardino sein christliches, vom humanistischen