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Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts : ihre Ziele und Thaten / von Cornelius Gurlitt
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Wandel des Urteils.

Kritik aus Eigenem.

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jenes angeborenen richtigen Geschmackes, den jeder zu besitzen meint,sür berufen in meiner geistigen Übereinstimmung mit den Kunst-werken den sicheren Beweis dafür zu finden, daß sie untadelhaftseien; gewisse kleine Ausstellungen abgerechnet, in denen mein Urteilvon ihrem Werk abwich. Und ich war nicht im Zweifel, daß, allerVerehrung unbeschadet, in solchen Zweifelssallcu allemal i ch Rechthatte. Und wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht, der istsürwahr ein erbärmlicher Wicht. Erst als ich anfing, mir dieKnnst berufsmäßig anzusehen, durch die Ausstellungen Europas zu wandern, jährlich meine acht bis zehntausend Kunstwerke abzu-schätzen, begann mir um meine Klarheit bange zu werden, lernteich verstehen, daß nicht einer das Urteil besitze, sondern daß dasUrteil einen besitzt; und daß man gut thut, ihm deu Lauspaß zugeben, will man des strengen Herrn ledig, srei werden. Nichtim Kritisieren, sondern im Berstehen liegt die Aufgabe für uusereinen.Von diesem Augenblicke sah ich auch ein, daß sich die Kritik nurauf ein Gebiet bisher noch nicht genügend geworfen habe, nämlichauf die Kritik der Kritik. Es giebt so viel Leute, die munterdrauf los urteilen, in der Hoffnung, daß niemand, anch sie selbstnicht, sich merken werden, was sie gestern sagten. Unbesorgtbehaupten sie nach einem Jahr das Gegenteil, aber immer in derÜberzeugung, Wahrheiten zu verkünden, zumeist sogar iu ganzehrlicher Überzeugung. Ihr Urteil hat sich eben geändert, siedienen einem neuen Herrn. Paul de Lagarde spricht von denunendlich langweiligen Gesellen, die zu feiner Zeit als Liberale ge-fürchtet, als Bösewichter verschrieen über die Bühne des Lebensgingen und Karl dem Großen vorwarfen, daß er nicht nach einerständischen Verfassung regiert habe. Ich sah, daß diese in unsererKunstgeschichte Ableger gepflauzt habeu, die alles Schaffen inJugeud, Blüte und Verfall teilten, den Leuten nach Michelangelo vorwarfen, nicht originell und denen vor Giotto nicht reif gewesenzu sein; Leute, die neuere Meister danach schätzen, ob sie Vorläufer,Förderer oder gar Vollender der Richtung seien, bei der gerade siein ihrer Geschmacksentwickelung augenblicklich stehen.

Hermann Bahr sprach 1890 in seinem Buche Zur Kritikder Moderne aus, was auch ich empfand, indem er sagte: die Kritik