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eine Flut höhnender Erwiderungen erlebt. Aber es ist das ersteBuch seit Jahrzehnten, das von Künstlern wirklich gelesen wurde.Vielleicht nicht bis zur letzten Seite, aber sicher bis zur drittembis zu dem Absätze Individualismus.
Die treibende Gruud- und Urkraft alles Deutschtums heißtIndividualismus. Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Fragegleichbedeutend, sagt Fichte. Zu dieser ihm angeborenen, jedoch imLaufe der Zeit vielfach verloren gegangenen Eigenschaft muß derDeutsche zurückerzogen werden. Da die Deutschen das eigenartigsteund eigenwilligste aller Volker sind, so sind sie auch das künstlerischbedeutendste, weun es ihnen gelingt, die Welt klar widerzuspiegeln.Bei keinem Volke der Welt findet man so viel lebende Karikaturenwie bei den Deutschen; diese üble Eigenschaft hat auch ihre guteKehrseite; sie zeigt, daß sie sehr bildungsfähig sind; je ungeschliffenerjemand ist, desto mehr ist an ihm zu schleifen und desto höherenGlanz kann er erlangen. Die große Zukunft der Deutschen beruhtauf ihrem excentrischen Charakter. Aus demselben Grunde kaunihre höchste Bildungsstufe nur eine künstlerische sein; denn die höchsteBildungsstufe eines Volkes muß der tiefsten Seite seines Wesensentsprechen, und der Individualismus ist die tiefste Seite des deutschenWesens. Eine Individualität haben, heißt Seele haben; eine ge-schlossene Individualität haben, heißt Stil haben. Der Stil istkein Kleid, das man aus- uud anzieht, es ist ein Stück vom Herzendes Volkes selbst. Stil kann sich nur aus der Persönlichkeit undzwar aus dem tiefsten innersten Keime der Persönlichkeit einesVolkes entwickeln. Der innerlich wie äußerlich einheitliche Ton istStil. Der deutsche Künstler soll nicht idealisieren; Kunst aus ersterHand, nicht Kunst aus zweiter Hand brauchen wir. Rembrandt ist ein Beispiel, wie eine Persönlichkeit sich zum Stil durcharbeitet.
Der Mann und sein Buch wies aus jene, die ähnlichselbständig wie er dachten: Paul de Lagarde , den man lange fürden Verfasser von Rembrandt als Erzieher hielt, wurde um des-willen mehr gelesen. 1891 erschien der zweite Abdruck seinerDeutschen Schriften. Von ihm lernte ich die Idealität vom Idea-lismus unterscheiden. Durch den 1885 zuerst gedruckten Aufsatzüber die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle,