564 X. Geistes- und Nervenkrankheiten und gerichtliche Medizin.
organischen Veränderungen des Centralnervensystems beruht, sondernlediglich eine funktionelle Affektion darstellt, die akut und chronischauftreten kann. Hatte nun Bouchut das Wesen der Nervenschwächeauch erkannt, so wurde sowohl im ärztlichen Lager als auch inder Laieuwelt von der geistreichen Zusammenstellung wenig Auf-hebens gemacht, bis George M. B. Beard (1839—1882) imJahre 1869 den glücklichen Namen: Neurasthenie gefunden hatteund dadurch mit einem Male die Nervenschwäche, wenn man sosagen darf, popularisierte. Es läßt sich gegen diese Bezeichnungviel einwenden, und es wurde auch von manchen Seiten versucht,andere Bezeichnungen einzuführen, aber immer wieder siegte die„Neurasthenie". 1881 wurde die beste der zahlreichen ArbeitenBeards von Neißer unter dem Titel: „Die Nervenschwäche(Neurasthenie), ihre Symptome, Natur, Folgezustände undBehandlung" iu das Deutsche übertragen und daran schließt sichnun eine überwältigende Litteratur, die um das Jahr 1890 ihrenHöhepunkt erreicht hatte. Die einzelnen Symptome wurden bisins äußerste Detail verfolgt. Wer denkt nicht an die Studienüber die verschiedenen Phobien, die sich alle an die WestphalscheAgoraphobie angeschlossen haben? Wer hat vergessen, wie dieWasser- und Nervenheilanstalten, welche den Kranken Heilung znbringen in Aussicht stellten, aus dem Boden wuchsen und wieauch die alteingebürgerten Wasserheilanstalten dem Zuge der Zeitfolgend sich auf die Behandlung der „Neurastheniker" einrichteten?Hatte schon Beard zweifellos viele falsche Beobachtungen gemacht,die das Krankheitsbild verwirren mußten, so fanden sich unter denNachfolgern nicht wenige, welche entweder durch ungenügend geklärteSymptomatik oder durch falsche Deutung der einzelneu Anzeichendem Fortschritte der Erkenntnis geschadet haben. So hat Arndtauf der einen Seite durch die Anwendung des Gesetzes vom er-müdeten nnd absterbenden Muskel auf die Erklärung der neurasthe-nischen Symptome großen Nutzen gebracht, andererseits dehnte erden Begriff so weit aus, daß man bei der Lektüre seiner Kranken-geschichten die schwersten und unheilbarsten Psychosen findet.Jolly leugnete die Existenz der Neurasthenie überhaupt, Gerhardtzählte sie zu deu Angioneurvsen, eine Ansicht, der auch S. T. Stein