Die religiöse Erneuerung.
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ihr, weil es daS ganze Jahrhundert hindurch und bis zu dieserStunde weltlichen Vorteil bringt und etwas einträgt, wenn manfür fromm gilt, ohne daß man dabei nötig hätte, eS auch wirklichzu sein; und umgekehrt bekämpfen so viele wahrhaft religiöse Menschendiese Verbindung der Religion mit dem Staat nnd die Institutiondes Landeskirchentums als ein Unmoralisches und kommen damitin eine mehr oder weniger entschiedene Lppositionsstellung zuallem Kirchlich-Religiösen.
Darin hat das neunzehnte Jahrhnndert einen der schlimmstenRückschritte dem achtzehnten gegenüber gemacht: damals proklamierteder große König den für Staat uud Religion gleich notwendigenund fegenbringenden Grundsatz, daß in feinen Landen jeder nachseiner Fayon selig werden dürfe; im neunzehnten Jahrhundert da-gegen hat der Staat die freien Denker verfolgt oder doch wenigstensdurchweg zurückgesetzt und mit Mißwollen nnd Mißtrauen betrachtet.Jedenfalls mehr zu seinem als zu ihrem und ihrer Sache Schaden.Hier liegt zugleich der iunere Widerspruch des Jahrhunderts: iukeinem ist so frei gedacht und geschrieben, in keinem so viel Kritikgeübt worden, und in keinem hat man von oben her die Freiheitdes Denkens mehr gefürchtet und beargwohnt; vom WöllnerschenReligionsedikt des Jahres 1788 bis zum Privatdozentengesetz desJahres 1898 ist dieser Faden immer nen gesponnen worden undnie abgerissen; daß der Geist sich nicht anders dämpfen läßt alsdurch Geist, haben sie nie begriffen.
Doch wir stehen noch am Ansang jener religiösen Ernenernng,als sie rein und stark Heranswuchs aus der Not der Zeit uud ausder Seele des VolkeS; wie die Quelle sich trübte und „fromm"und „frei" allmählich sich trennten, werden wir im nächsten Kapitelerfahren.