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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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1848 bis 1871: Die Begründung des deutschen Reiches,

Stimmung jener Zeit darf ich hier nicht schildern. Aber es istkeine Überhebung, wenn ich sage: glücklicher haben wir Deutsche unsnie gefühlt als in jenen Tagen, nicht aus Siegesübermut, sondernvor allein auch darum, weil es eine Katharsis und eine Ver-söhnung der Geister war uach Jahren der Zwiespältigkeit und desKampfes. Die sich vier Jahre zuvor im eigenen Hanse bekriegthatten, die stritten nun gemeinsam sür ein nnd dasselbe Vater-land. Wir wurden wieder Ein Volk, und damit war aller Hadervergessen; namentlich wir Süddeutsche fühlten uns wie erlöst vondem schwer auf uns lastenden unklaren nnd bösen Übergangs-zustand der vier letzten Jahre. Und anch besser sind wir alsVolk im ganzen nie gewesen: der Egoismus machte dem Eintretenfür das Ganze Platz, über sich und seine eigene kleine Person mitihren selbstischen Interessen war man hinanfgehoben, und anch dietrennenden socialen und konfessionellen Unterschiede waren vomSturme dieser Zeit verweht. D. Fr. Strauß hat in seinem Briefan Renan damals auch denen aus der Seele gesprochen und fürdie das rechte Wort gefunden, die ihn sonst als Ketzer weit vonsich wegwiesen. Daß der Krieg nach Schillers Wallenstein einrauhes Handwerk ist nnd das lange Lagcrleben vor Metz oderParis anch auf mauch einen verrohend wirkte, hat Rindfleisch inseinen Kriegseriuueruugen in voller realistischer Ehrlichkeit ge-schildert. Aber im Großen können sich weder die Friedensfreundemit ihren ethischen Anklagen gegen den Krieg noch die Demokratenmit ihren politischen Vorwürfen gegen den Militarismus auf densiebziger Krieg berufen. Dagegen ist es eine von Treitschke auf-gebrachte Legende, daß unser Volk mit besonderer Frömmigkeit indiesen Krieg gezogen oder aus ihm heimgekehrt sei. Auch diesmallehrte die Kriegsuot manch einen beten. Allein dabei unterschiedsich dieser Krieg doch durchaus in der Stimmung der Kämpfer vouden Befreiungskriegen zu Anfang des Jahrhunderts: die Not warnicht so groß, daß sie zum beten gezwungen Hütte, nnd so wardas Buch der heimkehrendem man mag das beklagen oderdarüber schelten, aber man darf es nicht leugnen wollen das imJahr 1872 erschienene Glaubensbekenntnis von Straußder alteund der neue Glaube", das trotz aller Ablehnung von Seiten