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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: Socialismus und Socialdemokratie.

Ausdruck gegeben, daßdie Gesetzgebung sich nicht auf die Polizei-lichen und strafrechtlichen Maßregeln zur Uitterdrückung und Abwehrstaatsgesährlicher Umtriebe beschränken dürfe, sondern suchen müsse,zur Heilung oder doch znr Milderung des in dem Strafgesetz be-kämpften Übels Reformen einzuführen, welche das Wohl der Arbeiterzu fördern und die Lage derselben zu bessern nnd zn sichern geeignetsind"; der Kaiser mahnte angesichts seines hohen Alters zur Eile:solange Gott ihm Frist gebe, wolle erkein in seiner Machtstehendes Mittel versänmen, um die Besserung der Lage der Arbeiterund den Frieden der Berufsklasscu untereinander zu fördern".

Dieses wiederholte und in feierlichster Form verkündigte Pro-gramm schien bestimmt, den ersten deutscheu Kaiser zum Trägereiner neuen soeialen Ära zu machen. Aber es that noch mehr:es leitete eine neue Auffassung vom Staat und seinen Ausgabenein, die der liberalen schnurstracks zuwiderlies, aber noch vielweniger konservativ genannt werden kann: es ist die realistischeund staatssocialistische. Sie macht den Staat für das Wohl derarbeitenden Klassen verantworlich, legt den Besitzenden zu gunstender Arbeiter zwaugsweise Opfer aus uud sucht den monarchischenStaat (aber wohlgemerkt nicht die Person des Monarchen) alsHort nnd Beschützer der wirtschaftlich Schwachen erscheinen zulasseu. Damit tauchte natürlich der alte Streit über die. Grenzender Wirksamkeit des Staates wieder auf, der sich doch nichtprinzipiell entscheiden, sondern mir von Fall zn Fall schlichten läßt.In diesem Augenblick war 'jedensalls für diemanchesterliche"Staatsanffassung keiu Raum mehr. Sie galt es also aus deuKöpfeu und aus der Praxis der Staatsverwaltung zu verdrängen;und überhaupt kam es nun darauf an, ob es gelinge, für dieseResormgedanken die öffentliche Meinung uud vor allem bei denBeteiligten Verständnis und Vertrauen zu gewinnen. Darin lagdie doppelte Aufgabe, sie den Besitzenden, die das diätenlose Par-lament beherrschten nnd somit die Klinke der Gesetzgebung in derHand hatten, plausibel zu machen, lind auf der andern Seite durchsie die unteren Klassen mit den Besitzenden und, was noch wichtigerwar, mit dem Staat wieder auszusöhnen, dem sie deshalb denRücken gewendet hatten, weil er bis dahin so gar wenig für sie