Liberalismus und ZvcialismuS.
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führung immer schiefer werdenden Bilde Schäffles, als ein organischerKörper: die Gntercrzeugung nnd Güterverteilung sozusagen derStoffwechsel dieses Körpers, den zu erhalten auch im Bewußtseindes Einzelnen als die höhere Pflicht neben der der individuellenSelbsterhaltnng anerkannt werden mnß. Oder wie der BischofWestcott von Dnrham es ausdrückt: „der Socialismus betrachtetdie Menschheit als ein organisches Ganzes, eine lebensvolle Einheit,die durch die Verbindung von in wechselseitiger Abhängigkeit zu-sammenwirkenden Mitgliedern gebildet wird; seine Methode istKooperation, sein Ziel die Erfüllung einer Dienstpflicht. Er willdas Lebeil so organisieren, daß es einem jeden die vollständigsteEntwickelung seiner Kräfte sichert". Gerade der Individualismushat es versäumt zu gliedern, zu differenzieren, Individualitäten znschaffen, er hat jene Massen zusammengeballt, die unS so un-persönlich und individnallos und deswegen so unheimlich wie alleschaotisch Elementare gegenüberstehen, er hat mit seiner die Gesell-schaft atomisierendcn Tendenz direkt antiindividnalistisch und dis-sonierend gewirkt, und darum tritt ihm der Socialismus als dashöhere sittliche Priuzip gegenüber, indem er in dem Sinn wirklicherGliederung und Differenzierung wahrhaft assoeiativ und genossen-schaftlich thätig fein will.
Aber es ist doch kein bloßer Gegensatz, eine Doppelstellungund ein recht eigenartiges Doppelspiel ist zwischen den beiden un-verkennbar. Ohne den Liberalismus ist der Socialismus überhauptuicht denkbar; auch er ist liberal, der Geist besreieuder Kritik istseine Voraussetzung. Alle jene Hindernisse, die der Liberalismusweggeschafft hat und uoch bekämpft, gelten auch ihm als Hindernisse,darin geht er mit dem Liberalismus Hand in Hand; ja er iststreng genommen nur noch liberaler, indem er eine weitere Be-freiung anstrebt, nämlich die des Arbeiters von der Übermacht desCapitals, und sür ihn weitere politische Rechte verlangt, vor allemdas der Koalition; uud er setzt den Differenziernngs- nnd Jndivi-dualisiernngsprozeß nur weiter fort, indem er ihn von den Bour-geois, für dereu Emanzipation der Liberalismus kämpfte, auch aufden vierten Stand ausdehnen will. Anch er ist somit in Wahrheitein Kampf um den Einzelnen.