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Nach 1871: äs sik-ols«
mehr und mehr Herzen und Köpfe, und daneben findet die NietzfchescheJndividualitätSlehre, die das schrankenlose Recht des Sichauslebeusfür die geniale Persönlichkeit iu Anspruch nimmt und zu demZweck alle sittlichen Werte umwerten möchte, begeisterte Anhänger.Zwiespältig sind wir aus dem Gebiet der Kunst uud Poesie: daSKlassische wird noch immer als Bildungsmittel benützt und verehrtoder doch historisch respektiert, und daneben die Abwendung vomklassischen Ideal als einem innerlich Unwahren und der realistischeWerdedrang einer die Wahrheit auf Kosten der Schönheit pflegendenKnnstweise. Nud zwiespältig endlich gegen die Grundlage» unsererGesellschast nnd der sie durchdringenden Kultur überhaupt: einFesthalten und Sichanklammern an das Bestehende, als wäre esdurchweg ein Vernünftiges uud bleibend Wertvolles, und auf derandern Seite eiu Anstürmen gegen dieses Bestehende, als wäre esbereits von allen guten Geistern der Vernunft und der Sittlichkeitverlassen und konnte nicht eilig genug bis zum letzten Bausteiuabgetragen und in Trümmer geschlagen werden, dem historischenSinn des Jahrhunderts tritt ein revolutionärer Sturm und Drang gegenüber. So gürt und brodelt es rings um uns her und reißtuns alle in seine Strudel mit hinein. Eine Welt voll Gegensätze istdieses „?ir> äs Asole", in der alles chaotisch durcheinander quirlt undwogt, Karneval und Aschermittwoch zugleich, krastvoll ausstrebendeRenaissance uud pessimistisch müde Dekadence; eine Zeit der „Ruhe-losigkeit uud Reizbedürstigkeit", aber auch der Nuhebedürftigkeit undReizübersättignng, des sich Verlierens an das Zerstreuende der Außen-welt und des sich Sehnens nach der Wiedergewinnung eines Inner-lichen und Einheitlichen. Und die Menschen dieser Zeit auf der eiuenSeite voll Überschätzung des Intellektuellen, von des GedankensBlässe von früher Jugend auf angekränkelt und deshalb in ihrerNervosität vou unausgesprochenen uud unaussprechlichen Stimmungenbewegt, nnd daneben doch praktisch, Militaristisch, voll Arbeit undWillen; pessimistisch und blasiert, tief innerlich müde auf der einenSeite und auf der andern vom Willen zum Leben, von Lebens-drang und Lebensfreudigkeit emporgerissen und emporgepeitscht,thatkrästig vorwärts, ehrgeizig auswärts strebend; frei von Vor-urteilen, ungläubig uud kritisch, kühl bis ans Herz hinan, nud da-