Teutsche Machtstellung und deutsches Machtbewußtsein,
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Deutschland die zweite Stelle ein und wird nur noch von England überflügelt; aber indem es auch diesem immer mehr Konkurrenzmacht, hat sich ein Gegensatz zwischen den beiden Ländern heraus-gebildet, der sich in der gereizten Sprache der Presse, namentlichsoweit diese von Handelsinteressen beeinflußt uud abhängig ist, zu-weilen recht unerquicklich spürbar macht. So bildeten sich neuepolitische Konstellationen, und das Reich geriet ganz von selbst immertieser „in die politischeu Gegensätze, die den Erdball umspannen,hinein". Auch dabei empfindet man freilich das Stoßweise undWechselvolle in der politischen Leitung störend, uud ans diesemmangelnden Vertrauen heraus erklärt sich dann auch eiu so Seltsames,wie das, daß der „Alldeutsche Verbaud" einen Vertrag mit England über die Delagoabai mißbilligt, ehe er auch nur seinen Inhalt kennt.
Zum Schutz dieses sich dehneuden Handels- und Absatzgebietes,zum Schutz unserer Kolonien und zur Behauptung dieser neu-gewonnenen Machtstellung inmitten rivalisierender Nachbarn be-dürfte es endlich auch einer starken Flotte. Schou Bismarck hatteunter Kaiser Wilhelm I. die Entwickelung der Flotte mächtig gefördert.Immerhin stand sie nicht nur hinter der von England , sondernanch hinter der Seemacht Rußlands nnd Frankreichs erheblich zurück.Das erscheint nnn vielen wie eine Demütigung nnd wie eiuZeichen von Schwäche, auch im Interesse unseres Handels unduuserer Kolonialpolitik anf die Dauer unhaltbar, und daher fordertensie eine starke Vermehrung von Panzerschiffen nnd Kreuzern; wo-gegen andere meinen, daß für das uicht übermüßig reiche Deutsch-land die doppelte Großmachtstelltuig zu Land uud zur See eine zuschwere Belastung sei. Durch Annahme des Flottengesetzes imFrühjahr 1898, wobei bezeichnender Weise das Centrum den Aus-schlag gab, ist der Streit vorläufig zu gunften der ersteren ent-schieden nnd ein Flottengrüudungsplau für die uächsteu siebeu Jahrefestgelegt. Auch hier hat die öffentliche Meinung, wem? anch nichtso stark wie bei den Septennatswahlen von 1887 für die Ver-mehrung des Landheeres, mitgewirkt nnd auf die aufäuglich be-denkliche Neichstagsmehrheit den erforderlichen Druck ausgeübt, sodaß es auch die Widerstrebend«: nur ungern auf die Kraftprobeeiuer Auflösung und Neuwahl hätten ankommen lassen mögen.
Ziegler, die geistigen u. socialen Strömungen des 19. Jahrh. 33