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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871: cle sidole'

So schoß anS jener giftigen Saat des Gründnngsschwindels derJudenhaß langsam aber sicher ins Kraut, vor allein wurde Berlin ,wo sich freilich in Börsen- und Journalistenkreisen die Juden auchbesonders unangenehm breit machten, der Sitz dieser Bewegung.Und wieder war es das Schicksalsjahr 1878, in dem der Hof-prediger Stöcker diese Stimmung benutzte. Gegen die Fortschritts-partei und die Socialdemokratie, die dort um die Majorität raugeu,gründete er eine ueue, die christlich-sociale Arbeiterpartei. Als derersten einer begriff er, daß dem Socialistengesetz eine Positiv schöpfe-rische sociale Resormthätigteit zur Seite treten müsse, dieses Socialesuchte er durch das Bindeglied des Antisemitismus deu kouservativeuParteiauschauungen einzuschmelzen. Das Fascinierende seiner Bered-samkeit gewann ihm zwar nicht die Massen, die in ihm vielleichtinstinktiv sittliche Wahrhaftigkeit vermißten und sich durch seinekirchlich-orthodoxen Hintertreppenabsichten abgestoßen fühlten; aberviele, namentlich auch die akademische Jugend, jubelten ihm dochzu, und Bismarck, der für feine neue Politik Bundesgenossenbrauchte, ließ ihu wenigstens eine Zeitlang gewähren. Daß einauch in der Wahl seiner Mittel wenig ängstlicher, des öfteren derDoppelzüngigkeit beschuldigter und überführter Agitator in seinemAmt als Hofprediger belasseu wurde, hat freilich vielfachen Anstoßerregt und läßt sich auch mit dem Alter des Kaisers uicht ganzentschuldigen.

Nun glaubte auch Treitschke seine Zeit zu verstehen und nahmsich mit seiner lauten Stimme der antisemitischen Bewegung an.Auch bei ihm war es wohl einerseits Abneigung gegen die BerlinerFortschrittspartei, die stark mit jüdischen Elementen zersetzt warund durch den sachkundigen Manchestermann Bamberger der neuenSchutzzollpolitik deu entschiedensten Widerstand entgegensetzte. Es waraber doch vor allem das rein nationale Pathos und Interesse: dasJndentum erschien ihm als ein Tropsen fremden Blutes im deutschenPolkSkörper. Dazu kam, daß er unter dem Einflnß des siebzigerKrieges religiöse Jugeudeiudrücke wieder belebte uud legendenartignach rückwärts, nach dem Muster vou 1813, auch iu dem Kriegvon 1870 der Frömmigkeit eine bedeutsame Rolle zuweisen wollte.So begegnete er sich auch hier mit Stöcker: er schmähte auf den