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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Der Antisemitismus.

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schon mit Ersvlg eingeleiteten NssimilationSprozeß. Und so bleibtdoch nichts als Haß und Neid, darauf aber baut mau keine Partei,die Bestand hat, nicht einmal einen studentischen Verein, nnd damittreibt man keine ersprießliche Politik. Wie unvornehm aber dieganze Bewegung ist, das zeigt schon der eine Name Ahlwardt,dem sogar die akademische Jugend in Berlin eine Zeitlang alsdemRektor aller Deutschen " zugejubelt hat; der Prozeß wegen der vonder Firma Löwe geliefertenJndenflinten" hat bewiesen, wieunsubstantiiert und leichtfertig antisemitische Veschuldiguugeu indie Welt geschleudert werden. Daß sie aber in ihrer Skrupel-losigkeit auch im höchsten Grade gefährlich ist, das ließ der Mord-prozeß Buschhosf in kanten in furchtbarer Deutlichkeit erkennen:wenn die Ungarn in Tisza Eszlar an das Märchen glauben, daßJuden Kinder an sich locken und stehlen, um sie zu schlachten undihr Blut zu rituellen Zweckeil zu verwenden, so rechnen Nur dasbillig zuHalbasieu"; wenn aber dasselbe auch in Deutschland geglaubt und dadurch deutsche Städte in Aufruhr und deutscheGerichte in Bewegung gesetzt werden, dann verhüllt der Geniusunseres doch auch an Lessing großgewordenen Volkes beschämt seinHaupt. Kommt es gar wie in dem pommerschen Nenstettinzu Volksausschreitungen, so ist es an der Zeit, daß die ganzeBewegung als grober Uufug betrachtet und behandelt wird. Undwenn wir heute mit ansehen, wie in Frankreich der Antisemitis-mus im Bund mit den konservativen Mächten des Klerikalismusund Militarismus durch Lüge und Fälschung, durch brutaleDrohungen und hochverräterische Machenschaften die Gerechtigkeitniederschreit, das Volk in atemlose Aufregung versetzt lind denStaat an den Rand des Verderbens führt, so ist auch dasfür uns eine Warnung, wohin wir es nicht kommen lassendürfen. Treitschke freilich, den man für die Ausbreitung desAntisemitismus iu den Kreisen der akademisch Gebildeten besondersverantwortlich macheu muß, hat beim Tode Kaiser Friedrichs ge-glaubt es aussprechen zu dürfen: dieser habe die Fühlung mit seinergewaltig aufstrebenden Zeit verloren, weil er für die antisemitischeBewegung nur Worte zornigen Tadels gehabt habe. Es war diesein trauriges Zeichen dafür, daß wir uns in dieser Frage hin und