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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Nach 1871:17in Ss sik-ols".

init Eifer und Erfolg. Zunächst verband er sich dabei mit denKonservative,,, bald aber wurde er diesen selbst gefährlich, da ersie an Skrupellosikeit uud Rührigkeit der Agitation doch bei weitemübertraf; durch Aufnahme agrarischer Forderuugen oder der Für-sorge für die Erhaltung der Handwerker wußte er sein ursprünglichwesentlich negatives Programm Positiv zu ergäuzeu und vielen mund-gerecht zu machen. Bei den Reichstagswahlen von 1898 haben esdie verschiedenen Schattierungen der Antisemiten oder, wie sie sichlieber heißen, die Dentsch-Nntionalcn auf 244 000 Stimmen und12 Abgeordnete gebracht.

Man wird nicht leugnen können, daß die Juden allerlei Schuldauf sich geladen und zu Haß und Mißachtung oft wirklichen Au-laß gegeben haben durch Wucher an der Börse und auf demLand, durch die Frechheit jüdischer Journalisten nnd die eligueuhafteZudringlichkeit und Betriebsamkeit in wissenschaftlichen uud aka-demischen Verhältnissen. Dagegen Front zu machen haben wiralleS Recht. Aber so wie sie inseeniert, vergröbert und ver-allgemeinert wurde, ist die antisemitische Bewegung für uns Deutsche doch eine einzige große Schande: sie widerspricht nnserem ansToleranz gestellten Wesen, ist unduldsam und chauvinistisch, istmaßlos und ungerecht. Und was sie will, ist nicht abzusehen: einePetition au den Reichstag um Aufhebung der politischen Gleich-berechtigung der Jnden mußte abgelehnt werden, weil sie mit denGrundlagen unserer Perfassung im Widerspruch steht; und wennman Dührings Borschläge zur Entjudung des Volkes liest, so er-keunt man, wie unmöglich und aller unserer heutigen Anschauungvom Staat uud von der Stellung der Einzelnen im und zumStaat widersprechend die von ihm geforderte Ausuahmestetluug derJuden wäre. Unser moderner Staat ist nicht christlich nnd nichteinmal ausschließlich germanisch: an seinen Rändern gehören Polen ,Dänen, Franzosen zn ihm; sollte er also die paar hunderttausendJnden uicht auch uoch ertragen können? Der Gedanke, die Juden selbstdurch schlechte Behandlung zum Verlassen Deutschlands zu bewegenund die daran sich anschließende Bewegung der Zivilisten, die aufGründung eines national-jüdischen Staates in Palästina ausgeht,ist völlig utopistisch und anachronistisch und stört nur den längst