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Die geistigen und socialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts / von Theobald Ziegler
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Die Poesie,

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finden ist, republikanisch aufrechte und unverbogene, selbständigeund eigenartige Naturen; dabei aber doch nichts von Einförmigkeit,sondern eine Mannigfaltigkeit und Gestaltenfülle ohne gleichen.Endlich noch eins: Keller ist kein Thesen- und Problemsteller, derFiuesseu ausklügelt, aber er ist eiu gedankenreicher Dichter; er istkein Philosoph, aber er erfaßt mit philosophischem Geiste das Leben.Das zeigt sich nicht bloß in dem noch stark reflektierendenGrünenHeinrich", sondern selbst in einer so ganz poetischen Erzählung wieRomeo und Julia aus dem Dorfe", wo Schicksal, Freiheit undSchuld so wunderbar ineinander sich schlingen und auch schon andas sociale Problem gerührt wird.

So ist Keller wirklich modern, nnd deswegen ist auch seinRuhm, deu doch nicht schon Treitschke sondern erst Bischer 1874seinen deutschen Stammesgenossen zum Bewußtsein gebracht hat,bis heute nur immer gestiegen, wie zu einem Führer sehen dieJüngeren zu ihm auf. Nur in einem ist er ganz unmodern: ersteht nicht jenseits von Gut uud Böse, sondern auch im Sitt-lichen festen Fußes auf dem Boden der guten alten Moral, diesesobere Stockwerk versteht sich für ihn immer von selber; ausdrücklichsagt er einmal:Die Erfahrung, daß unbedingt Tugend und Güteirgendwo sind, ist ja die schönste, die man machen kann, und selbstdie Seele des Lasterhaften reibt sich vor Vergnügen ihre unsicht-baren, dunkeln Hände, wenn sie sich überzeugt, daß andere für siegut nnd tugendhaft sind". Wie groß er aber ist, zeigt sich besondersdann, wenn ihn einer nachahmen will; Hans Hoffmann z. B. hatein freundliches Talent geradezu verdorben, seit er mit der Keuledieses Herkules spielt. Uud auch darin zeigt sich Kellers Größe, daßer mit der Entfernung wächst und immer mehr in das Centrumdes Zeitinteresses einrückt, während Heyse langsam aus diesemhinaus gegen die Peripherie hin gedrängt wird.

Doch noch sind wir nicht bei der Richtung angelangt, der Kellerheute seine Wertschätzung verdankt, eine andere schiebt sich naturgemäßvoran. Den siebziger Jahren fehlte eine nationale Poesie, auchWildenbruchs Heldenlieder aus Viouvillc nnd Sedan füllten dieseLücke nicht aus. Nur mit einem gelang es: im Zusammenhangmit der Enthüllung des Hermannsdenkmals auf der Grotenbnrg