Die Poesie,
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damit die Litteratur — bereichert. Und nun machten sie —theoretisch wie die Jugend immer ist — daraus ein Dogma uudlehrten, daß diese Mädchen mit ihrer unzweideutigen Vergangenheitviel interessanter seien 'als die Berliner Geheimratstöchter. Wassie aber mit diesen Dirnen erleben, ist natürlich nichts als einfortgesetzter sinnlicher „Liebesrausch", der gewöhnlich die Leser weitfrüher noch als die Helden dieser Romane mit Ekel erfüllt. Unddas Unerfreulichste an vielen dieser Bücher war die cynische Ge-sinnung, in der hier die Gemeinheit sich entblößte, nnd die Offenheit,mit der ein Nachtstück aus dem Berliner Großstadtleben nns vor-geführt wnrde. Angesichts dessen konnte man wirklich für denIdealismus unserer deutschen Jugend fürchten.
Jung war dann weiter auch das Revolutionäre uud Unhisto-rische dieser neuen Richtung, ihre Abkehr von allem traditionellGeltenden, uamentlich auch in der Sitte. Allein Konventionellenerklärte man den Krieg, die Substanz der Sittlichkeit löste man ausund forderte für sich das Recht, sessellos sich auszuleben in seinerEigenart. Die socialdemokratische Kritik am Bestehenden verbandsich mit Nietzsches Moralskeptizismns und mit seinem extremen In-dividualismus. Das bedeutete zugleich den Bruch mit dem bisdahiu unser Jahrhundert beherrschenden Historismus . Dieser Jugendwar nichts heilig, weil es grau vor Alter ist; sie interessierte über-haupt nicht, was war, souderu immer uur was ist; sie lebte uudwollte leben, ihr hatte nur der Lebende recht. Darum wurden auchvon den Vorgängern nicht nur die Dahu uud Ebers definitiv beiseitegeworfen, waren nicht nur Wildenbruchs Karolinger und Heinricheimmer schon veraltet, wenn sie kamen, sondern auch deu Größtenversagte diese Jugend den Respekt nnd wandte sich pietätlos vonihnen ab. Vor allem wnrde Schiller, der Idealist, von dieser Ab-neigung getroffen. Von Brahm haben wir schon gehört, daß ersich als „Schillerhasser" bekannte; und noch jüngst hat EdgarSteiger iu seinem Buch über „Das Werden des neuen Dramas"die „Maria Stuart " sür herzlich langweilig erklärt und von der„Juugfrau von Orleans" gesagt, daß sie „höchstens verbildetehöhere Töchter oder leihbibliotheksüchtige Köchinnen zu entzückenvermöge"; daß Schiller alle seiue dramatischen Figuren zum
Zicgler, die geistigen u. socialen Strömungen des IS. Jahrh. 42