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1800—1810.
aufmerksam geworden ist; so viel ergreifende, so viel rührendhumoristische Effekte. Aber mehr noch als sein reicher Geist undder Zauber seiner lyrischen Weichheit wirkten die modernen Ten-denzen Jean Pauls . Hier liegen die Anfänge einer politisch-socialenLyrik, die zwar noch in die Prosa des Romans eingebettet blieb,aber anch so die herzliche Sympathie mit den „kleinen Leuten"uud den zürnenden Groll gegen Unterdrückung und Hofprunk beredtgenug sprechen ließ. Die galante Verehrung der neu sich er-hebenden Großmacht, der Frau, schmeichelte nicht bloß den zahl-reichen Damen, denen der Dichter persönlich den Hof machte;Schiller aber hatte in den „Genien" gerufen: „Ich dächte, manschriebe für Männer nnd überließe dem Mann Sorge für Frauund für Kind!" Und dann vor allem: die Klassiker gaben fertigeKunstwerke — Jean Paul aber war „anregend". Dies heut soerstrebte Prädikat hat seit dem Denker und Prediger Herder keindeutscher Autor so wie er verdient. Und angeregt wollten dieLeser werden, um sich selbst als poetische Individualitäten zu fühlen.Hunderttausend nur eben leicht berührte Gedanken, Vergleiche diesich in atemloser Hast jagen, skizzierte Gestalten, stimmungsvolleSituationen, die jäh abgebrochen werden — all das nimmt dieMitarbeit des Lesers in Anspruch, wo Lessing , Goethe, Schiller ab-geschlossene Sätze, feste Gestalten, fertige Bilder boten.
Hier lag die Gefahr in Jean Pauls Erfolgen. Den Dilet-tantismus, der stets die Anregung über die Vollendung stellt,hatten Goethe und Schiller als die große Nationalkrankheit be-fehdet. Jean Paul ermutigte ihn. Eine weichliche Nachlässigkeitin der Durchführung wie der Charaktere so der Handlung, eineFormlosigkeit, die der „schönen Stelle" unbedenklich das Interessedes ganzen Buches und dem witzigen Einfall selbst die Verständ-lichkeit opfert — diese Schwächen lockten nur zu verführerisch Nach-ahmer, denen Jean Pauls Geist so gut wie sein Herz, sein Wissen wiesein Feingefühl für stilistische Einzelheiten fehlte. An jener gefähr-lichen Lockerung des Stils, die allmählich über den „Feuilletoustil"zum schlimmsten „Zeitungsstil" führte, trägt Jean Paul ungleichmehr Schuld als die immer wieder dafür gescholtenen ungleichenBrüder Heine und Börne. Heine disponiert im Gegenteil vortrefflich;Börne allerdings zeigt die ganze Zersplitterung des Feuilletonstils,aber er hat es eben von Jean Paul gelernt, statt einheitlicherArbeiten ein Mosaik von geistreichen Einzelheiten zu geben.