56 1810-1820.
mehr am Leben. Das falsche Dichterideal der Romantik hattesein Leben zerrüttet: die Überschätzung des „Poetischen Erlebnisses",der Mangel an Ehrfnrcht vor der einfachen Wirklichkeit.
Nach der entgegengesetzten Seite liegt die Schwäche Fried-rich Nückerts (1788—1866). Ihm ist jeder Gegenstand gutgenng zur Nersifikation.
Zum Teil mag das an der Schreibfrendigkeit des Philologenliegen: er scheint sich das Wort gegeben zu haben, nnn solle einmalvon einem Dichter auch jedes beschriebene Blatt auf die Nachweltkommen. Wenn sogar der nachsichtigste Richter, seine Lieblings-tochter Marie, doch einmal ein Verschen schwach fand, so schob derschweigsame Riese mit dem durchfurchten Denkergesicht die langePfeife einen Augenblick in den Mundwinkel, Paffte eine Rauch-wolke hervor und meinte dann: „Laß es nur stehen; mir hat's dochFreude gemacht." Uud es blieb stehen. Nückert zeigte seiueu eigenenLeistungen gegenüber die gleiche Unfähigkeit, zwischen dem Großenund dem Kleinen einen Unterschied zu macheu, wie gegenüber denNaturgegenständen. Er besitzt durchaus keinen Maßstab. Baldwird ein Küferchen in Riesengröße gezeichnet, bald ein Heros indas Futteral für den Taschenkamm gesteckt, jetzt eine naheliegendeRegel ausgedehnt und jetzt eine Weisheit im Vorbeigehen heraus-gespritzt. Vielleicht hat nie wieder ein bedeutender Künstler so viel vomDilettanten in sich gehabt. Gerade jenes „schädliche Vorliebnehmen",das Goethe sür den besten Nährboden des herrschenden Dilettantis-mus ansah, übt Rückert der eigeueu Poesie gegenüber ans. Er istgegen sich so gutmütig wie der alte Gleim gegen seine Schützlinge.Und deshalb hat der uuendlich produktive Poet schließlich wenigerin das Gedächtnis der Nachwelt gerettet als Uhland mit seinerstrengen Selbstkritik.
In all diesen Punkten erinnert unser fränkischer Meister merk-würdig an Victor Hugo , und das mit gutem Grunde. Er teiltmit ihm eine seltsame Verbindung: große Einfachheit des Denkensbei großer Kunstfertigkeit der Form. Sicherlich ift Rückert innigerals Victor Hugo selbst in seiner ,L.rt cl'strs Zranä-xdi-s", wo erder Gemütstiefe des deutschen Dichters am nächsten kommt; sicherlicherreicht der Franzose zuweilen eine Großartigkeit des Ausdrucks,die der breiteren Rede Nückerts versagt blieb. Aber jene Haupt-züge teilen sie. Für Nückert giebt es wie für Victor Hugo nureinfache Charaktere, nur einfache Begriffe. Von außen kauu ihreu