Rückblick, 91
heit ist die Parole dieser Zeit — so aber, daß sie die Dichtungnur zu geru in Wahrheit wandeln, die Wahrheit zur Dichtungumgestalten möchte. Daher die Vorliebe für Verwandlungen inGoethes „Epimenides " wie in der „Bezauberten Rose"; daher dieFreude der Gebildeten an der wirklichen Naivetät der Volksmärchenwie an der affektierten Scheinnaivetät von Claurens „Mimili"(1816), an den Schilderungen des italienischen Carnevals in GoethesItalienischer Reise, wie an den Masken- nnd Rollcnliedern Uhlandsnnd Wilhelms Müllers.
Eine solche Zeit ist der klaren, scharfen Lnft des Dramas nichtgünstig, in der die Gestalten zu deutlich dastehen; und in der Epikbevorzugt sie vor Roman und Novelle das Märchen. Aber fürdie Lyrik ist es ein gesegneter Zeitraum. Und so tritt Goethe hiermit seiner letzten großen Gabe (den vosthnmen zweiten Teil des„Faust" abgerechnet) ein: sein „Westöstlicher Divan " schließtdies Jahrzehnt ab. Anch hier ein Maskenspiel: der deutsche Alt-meister als persischer Poet „Hatem" mit Suleika-Marianne nnddem Schenken scherzend; auch hier, wie iu Wilhelm Müllers Kreise,Erwiederung des Spiels durch eigene Lieder der besungenen Dame.Und auch hier unter der Decke der erdichteten Ferne volle subjektiveWahrheit, echteste Empfindungen nnd Erfahrungen des verjüngtenDichterherzens!