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1810—1820.
Gnade, daß ihr jedes Gebet zum Gedicht, jedes Gedicht zum Gebetward. So entstand in wenigen Jahren ein reicher Strauß frommerLieder, deren ergreifende Einfachheit an das alte Kirchenlied er-innert: „Müde bin ich, geh' zur Ruh'". Achtlos schrieb sie siehin, kritzelte etwa die Verse auf ein buntes Medizinpapier. AberTausende und Zehntausende erbauten sich an diesen schlichten Ge-beten, was den prächtigen geistlichen Gedichten ihres FreundesClemens versagt blieb. —
Wir blicken zurück. Was hat der Zeitraum von 1810—1820der deutschen Litteratur, dem deutschen Publikum und seinen Sängernan dauerndem Gnt eingebracht?
Das große Ereignis der Freiheitskriege hat nicht nur in denLiedern der auscrwählten Sänger dem ganzen Volk ein unschätz-bares Besitztum verliehen; es hat auch seit langer, langer Zeit zumerstenmal wieder gelehrt, was ein nationales Erlebnis bedeute.Selbst Noßbach und Leuthen hatten nicht das ganze Reich berührt;man muß bis auf die Reformation zurückgehen, um solchen Nähr-boden für große Poesie zu fiuden. Und dennoch — Werke, wie dieNot des vorigen Jahrzehnts sie hervorgebracht hat, schuf dieserZeitraum nicht. Gegen die herrliche Blüte des Dramas in jenerZeit stellt die neue Jahrreihe nur zwei Meisterwerke: „Sappho "und den „Zerbrochenen Krug"; den „Wahlverwandtschaften " undKleists Erzählungen hat sie entsprechende Leistungen realistischerLebensbeobachtung überhaupt nicht gegenüberzustellen. Dafür blühtdas Märchen, in der Nacherzähluug der Brüder Grimm wie in derErfindung Fouqnes und Chamissos , blüht die phantastische Erzäh-lung Justinus Kerners und E. Th. A. Hoffmanns. Fast noch mehrist für dies Jahrzehnt die Vermischung von märchenhaften undrealistischen Bestandteilen, wie in Armins „Kronenwächtern" undBrentanos „Kasperl und Annerl", charakteristisch. Eine ähnlicheVerbindung kündet das bedeutendste Prosawerk der Epoche schon imTitel an: Goethes „Dichtung und Wahrheit ". Den deutlichstenAusdruck aber findet die Stimmung der Zeit (1819) in Schopen-hauers Hauptwerk. Wohl blieb es noch unbekannt, unverstanden;aber wie selten gilt der Prophet in seiner Zeit! Die Scheidungeiner unsichtbarem unfühlbareu und doch eigentlich allein wirklichenWelt von einer sichtbaren, fühlbaren und doch eigentlich nur schein-baren, wie die Romantiker sie in ihrer Poesie voraussetzen, wirdhier als philosophisches Dogma aufgestellt. Dichtung und Wahr-