106
1820-1830.
Herrn empor. Ihm war es innere Notwendigkeit, abzuschildern,was er sah; nicht wohlthätige Absichten oder Zuspruch von Gönnernhaben ihm, wie Biernatzki und Meinhold, die Feder in die Handgedrückt. Und dennoch ist auch er immer ein Dilettant geblieben,der es verschmähte, die Kunst zu lernen, vielleicht der genialsteDilettant unserer Litteratur, aber doch kein Künstler. Nicht sein„Realismus" hat ihn gehindert, seine Kräfte zur vollsten Entfaltungzu bringen, sondern seine Tendenz. Weil er immer vor allem Pole-miker war, weil ihm mehr an der Vernichtung seiner Politischen und religiösen Gegner lag als an der reinen Darstellung, deshalbist er auf der Mitte des Weges stehen geblieben, den GottfriedKeller zu Eude schritt.
Wir haben die heikle Frage der „Tendenzpoesie", die beim„Juugeu Deutschland" und bei deu Revolutionsdichtern brennendwird, nicht systematisch zu erörtern. Mit wenigen Worten müssenwir aber doch unsere Auffassung darlegeu. Sie geht einfach dahin,daß ein echtes Knnstwcrk einheitlich sein muß. Ist ein Dichternun ganz und gar erfüllt von einer „Tendenz", so wird sie ihnauch beim Anschauen der Welt ganz uud gar beherrschen. Lucretius war ganz uud gar beherrscht von der philosophischen Teudeuz desEpikureismus, Luther ganz uud gar erfüllt von der religiösenTendenz der Reformation, Uhland ganz und gar eingenommen vonder politischen Tendenz des „alten guten Rechts". Teudeuz undAnschauung war für sie üicht zweierlei; sie sahen ihre Ideen inden Dingen, die sie betrachteten. Deshalb ward das Lehrgedichtdes Lukrez ein echtes Kunstwerk, ward das Lied „Ein' feste Burgist uuser Gott " eine mächtige Hymne, ergriffen Uhlands Zeit-gedichte die Herzen auch seiner Gegner. Ob die Tendenz objektiv„berechtigt" ist oder nicht, geht uns hier nichts an; war sie sub-jektiv berechtigt, so hat die Litteraturgeschichte nnr dies anzuerkennen.Anders aber ist es, wenn Tendenz und Anschauung ansein-anderfallen. Der Dichter sieht in die Welt, giebt wieder, was ergesehen — und fragt sich dann: was folgt daraus? Er häugt derdichterisch wiedergeborenen Wirklichkeit einen Zopf von Moral oderPolitik an, der unwahr wirkt, weil die lebendigen Dinge nicht sopredigen. Das zerstört die Einheit des Kunstwerkes. Man fühlt:der Autor vergewaltigt die Wirklichkeit; man empfindet: die Lehreist ihm wichtiger als das Leben. Und wenn dies „Tendenzdich-tung" heißt, so ist sie Sünde, und um so mehr, je größere Talente