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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
Entstehung
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Annette v. Twste,

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Dichterin saß unter streng katholischen, altadelig-konservativen Ver-wandten, die nicht begriffen, was sich in diesem Herzen regte: diesmoderne Bedürfnis, zu erleben, die Regungen der Natnr in dereigenen Seele zu fühlen als den Pulsschlag Gottes. Wohl hattesie Freunde, die auch für die Ausgabe ihrer Gedichte sorgten keinegeringe Aufgabe bei der winzigen, kritzeligen Handschrift des kleinennervösen, oft an unerträglichem Kopfschmerz leidenden Fräuleins, daswie ihre fromme Sanggenossin Luise Hensel , sich über den erstenbesten Fetzen Papier beugte und hastig das Diktat ihrer Seele hin-warf, während die langen braunen stets gedrehten Locken auf denTisch hingen. 1837 erschien die erste Sammlung ihrer Gedichte,aber niemand beachtete sie. Der Wetteifer mit jüngeren Dichter-freunden, mit Levin Schücking (18141883), mit FerdinandFreiligrath (18101876), erweckt plötzlich in der still undmutlos gewordenen Dichterin eine unglaublich fruchtbare Spriugslutvon Gedichten (Winter 184142), die dann 1844 mit mäßigemErfolg veröffentlicht wurden. Sie ist nie verbittert geworden; aberdaß der Ehrgeiz sich regte, der verdienten Lorbeer forderte, daskonnte keine Lehre von der Heiligkeit bescheidener Stille hindern.

Und stärker noch bäumte sich oft in ihrer Brust eine andereMacht auf, ein anderer Feind: der Zweifel. Die gläubige Katholikinhat nie ein Dogma angezweifelt; aber ihrer Natur, die so stark fühlte,fo scharf das Nächste erblickte, war es Bedürfnis, auch Gott selbstunaufhörlich zu fühleu, seiue Allgegcnwart zu sehen. Und dannkommen schwere Momente, in denen sie kämpft, in denen um sie herkein Gott zu spüren ist. Wie Jakob mit dem Engel, ringt sie daleidenschaftlich in der langen Reihe ihrer geistlichen Gedichte, diejedes Fest mit einem Gebet, einer Predigt, einer Betrachtung inverschlungenen Strophenformen und harten Versen begleitet (Dasgeistliche Jahr" 1851). Sie ist sonst mit zarter Keuschheit überihre Erlebnisse schweigend fortgegangen; ihre Gedichte erzählen nichtsvon der hoffnungslosen Liebe, die sie hegte, von Enttäuschungender Freundschaft, von vergeblichen Wünschen. Dies immer wieder-kehrende Erlebnis aber drängt sich in die Beichte ihrer Lieder. Siebegehrt nach einem Starken, der sie überwindet und bindet; sieversenkt sich, um den Zuständen destrockenen Herzens" zu ent-fliehen, in pathologische Zustände, wo Traum und Wahrheit,Ahnnng und Gegenwartim siedenden Gehirne" verschmelzen; mitunheimlicher Kraft zieht sie das Furchtbare an: