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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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1830-1840,

Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht waS Bessere?klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachznschaffen.Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, nnd dann ist'Sgut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schon, ob es häßlich ist. DasGefühl, daß was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden undsei daS einzige Kriterium iu Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nurselten; in Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einemganz, in Goethe manchmal entgegen. Alles Übrige kann man ins Feuerwerfen. Die Leute können anch keinen Hundsstall zeichnen. Da wollte manidealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpnppen.Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.Mau versuche es einmal nnd senke sich in das Leben des Geringsten undgebe eS wieder in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen,kanm bemerkten Micncnspiel. Er hätte desgleichen versucht imHofmeister"nnd denSoldaten". Es sind die prosaischsten Menschen nnter der Sonne;aber die Gesühlsader ist in fast allen Menschen gleich; nur ist die Hüllemehr oder weniger dicht, durch die sie brechen muß. Nur eins bleibt,eine unendliche Schönheit, die aus einer Form in die andere tritt, ewigaufgeblättert, verändert. Man kann sie aber freilich nicht immer festhaltenund in Museeu stellen nnd auf Noten ziehen, nnd dann alt und jung her-beirufen und die Bubeu und Alten darüber radotiereu und sich entzückenlassen. Man muß die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesenjedes einzudringen; es darf einem keiner zn gering, keiner zu häßlich fein,erst danu kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einentieferen Eindruck, als die bloße Empfindung des Schönen, und man kanndie Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußeren hineinzu kopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Pnls entgegen-schwillt und pocht.

Ich habe die Stelle so ausführlich hergesetzt, weil sie nichtbloß das Wollen jener Zeit mit seltener Klarheit begründet, sondernanch für den Realismus unserer Tage unschätzbar ist. Wir er-kennen hier, wie der Pessimismus dieser Realisten in letzter Liniedoch auf eine leidenschaftliche Freude am Leben, an derunendlichenSchönheit" des Seins zurückgeht. Sie hassen den Idealismusnicht, weil er uuwahr sei, sondern weil er die Welt, die Gott ge-macht hat, verachtet. Was lebendig ist, scheint ihnen der künstle-rischen Nächbildung würdig; ja gerade in den leisesten Zucknngen,dem kaum bemerkten Mienenspiel belanschen wir das Leben selbstam innigsten. Indem sie sich aber mit dieser Andacht in dasKleinste und Gewöhnlichste versenken, empört sich doch wieder derererbte und anerzogene Schönheitssinn gegen dies Leben selbst, undes ertönen Worte der Verwünschung über die animalischen Funk-tionen des Menschen, wie sie nur irgend der religiöse Idealismusmittelalterlicher Asketen oder Swifts finden konnte. Die gleiche