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Die deutsche Litteratur neunzehnten Jahrhunderts / Richard Moritz Meyer
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Georg Büchner .

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packt ihn hier wie da ein ungeheurer Ekel. Das GroßherzogtumHessen, dessen Bürger er wie Karl Vogt war, lag damals unterder Herrschaft drückendster Reaktion, die 1830 zu einem Bauern-aufstand in Oberhessen führte. Das höhere Beamtentum bildeteeine eng verschwisterte Clique, deren verhältnismäßig hohe Gehälterfür das ausgesogene Land drückend waren. Zu den Freiheits-bestrebungen im ganzen Deutschland kamen sociale Momente ver-schärfend hinzu. Georg Büchner war ein Mann der Wissenschaft,in seinen Persönlichen Prinzipien strenger Idealist, von reinsteinLebenswandel in einer vielfach verlotterten und oft prinzipiell un-sittlichen Zeit, vor allem ein weiches Herz voller Mitleid, wiealle seine Freunde bezeugen. Was er sah, griff ihm ans Herz. Wiegegen den Ekel an den niedersten Funktionen desLebens", sowappnete er sich gegen den an den Fäulniserscheinnngen des öffent-lichen Lebens mit Härte. Er schien verschlossen und hochmütig alsMensch; er spielte ein wenig Marat als Politiker. Doch war esnicht nur gespielt, wenn er sich mit Gefahr des Todes in politischeVerschwörungen einließ: auch nicht, wenn er im Gegensatz zu deraristokratisch-liberalen Bourgeoisie mit seinemLandboteu" (1834)die erste socialistische Flugschrift (wie sein Biograph und Heraus-geber K. E. Franzos bemerkt) erscheinen ließ. Dein Physiologen, demMaterialisten war es natürlich, eine Heilung auch der Volkskrank-heiten mit derMagenfrage" zu beginnen, in den niedersten Muskelnund Geweben die eigentlichen Träger der Leiden zu sehen, die anden höheren Organen nur zum deutlichen Ausdruck kommen.

Aus solchen Anschauungen heraus ist Büchuer auch in derKunst unser erster konsequenter Realist geworden. Er hat ein Novellen-fragmentLenz" (1836) hinterlassen. Mit größter Feinheit schilderter hier, wie sich in jenem uuglücklicheu Dichter, der den verkanntenGenies ein Heros zu werden begann, der Wahnsinn entwickelt. Diewechselnden Lebenszustände, die Einwirkungen von Licht und Dunkel,Ruhe und Anregung, freundlicher Behandlung uud herrischen Auf-forderungen werden mit unnachahmlicher Sicherheit geschildert.Lenz wird ihm aber zugleich ein Typus des rechten Dichters über-haupt, uud ihm legt er seine charakteristische Kunstlehre in denMnnd. Besser ist das Dogma des Realismus niemals formuliertworden.

Lenz sagte: Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit,hatten auch keine Ahnung davon? doch seien sie immer noch erträglicher, alsdie, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: der liebe Gott hat die